«Haben Sie etwas Zeit? Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?», fragt die Anruferin am Telefon mit schüchterner Stimme. «Es ist die Geschichte von Ella. Begegnet bin ich ihr das erste Mal im Sommer 2019 auf dem Reiterhof in unserem Dorf. Wir haben uns sofort gut verstanden und uns auch nach dem Reiten oft zu den Pferden in den Stall gesetzt und stundenlang geredet. Sie ist das jüngste von drei Geschwistern. Der älteste Bruder hat sein Studium bereits abgeschlossen und lebt mit seiner Freundin in der Stadt Bern. Die Schwester studiert ebenfalls und ist nur selten zuhause. Ella erzählte mir, dass sie Floristin oder Tierpflegerin werden möchte. Ihre offene und herzliche Art hat mich sofort fasziniert. Wenn sie lachte, verteilte sich das Lachen auf ihrem ganzen Gesicht und liess die grossen dunkelbraunen Augen zu kleinen funkelnden Sternen werden. Ellas Mutter begleitete sie manchmal zum Reiterhof. Sie war immer sehr nett zu mir, doch in ihrer Anwesenheit war Ella anders. Das Funkeln in den Augen war weg. Sie wirkte angespannt und ich erkannte sie kaum wieder. Da wir ein sehr gutes Verhältnis hatten, sprach ich sie darauf an. Traurig erzählte sie mir, dass ihre Eltern sehr streng sind und hohe Erwartungen an sie haben, die sie nicht erfüllen kann. Was Ella will und kann, zählt nicht. Liebe gibt es nur für Leistung. Die Diskussionen um die Berufswahl und dadurch auch der Druck auf Ella nahmen ständig zu. Ich den kommenden Monaten bemerke ich, dass sie immer dünner wurde und sich zurückzog. Selbst ihre geliebten Pferde vernachlässigte sie und erschien immer seltener zu den vereinbarten Ausritten zu zweit. Besorgt wandte ich mich an ihre Familie. Es war offensichtlich, Ella brauchte Hilfe. Doch auch in dieser Situation redete der Vater von fehlendem Willen, mangelnder Disziplin und Schwäche. Heute, gut zweieinhalb Jahre später, ist Ella tot. Am 12. November 2021 hat sie entschieden, ihr Leben zu beenden.» Die Stimme der Anruferin stockt. Sie kämpft mit den Tränen. «Ich frage mich immer und immer wieder, warum?» Suizid ist bei jungen Erwachsenen in der Schweiz die zweithäufigste Todesursache. Bei Angebote wie Tel 143 – Die Dargebotene Hand Bern können Personen mit Suizidabsichten anonym ein Gespräch führen und offen darüber reden.
Daniela Humbel
für die Dargebotene Hand Bern