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RATGEBER: Wie schön ist das Leben noch, wenn man sich im Alter von so vielen und vielem verabschieden muss?

Wie schön ist das Leben noch, wenn man sich im Alter von so vielen und vielem verabschieden muss?

Tschüss Jass-Kollegen – willkommen kleiner Schmetterling Tschüss spontaner Ausflug – hallo du schöne Weinbergschnecke Tschüss Muskelkraft – wie raffiniert und prächtig die Orchideenblüte ist Tschüss Rasenmäher – guten Tag dicke Kröte Tschüss Autoführerschein – wohltuend ist das Zuwinken der Nachbarin Tschüss lieber Freund – auf ein Wiedersehen im Himmel

Bei jedem Abschied stirbt etwas weg. Johann ist 92-jährig und musste in den letzten Jahren alters- und pandemiebedingt von vielen und vielem Abschied nehmen. Seit dem Tod seiner Frau Rosemarie, meiner Mutter, vor acht Jahren lebt er alleine in seinem Haus mit Garten in Kehrsatz. Pünktlich zu seinen 92. Geburtstag hat er seinen Führerschein abgegeben, und wieder hat er ein Stück Mobilität und Freiheit ziehen lassen. Die Pandemie führte Johann noch krasser vor Augen, was Abschiednehmen bedeutet: Keine wöchentlichen Jass-Nachmittage mehr, keinen Austausch mehr unter langjährigen Kollegen, keine spontanen Ausflüge mehr auf die Bütschelegg.
Plötzlich reduzierte sich der Lebensradius auf die eigenen vier Wände und auf den Garten. Wie schlimm ist das für einen betagten Menschen? Woraus schöpft Johann die Kraft, trotz der einschneidenden Einschränkungen dankbar und zufrieden zu sein? Das intensive Zeitungslesen befriedigt sein Interesse am Welt- und Dorfgeschehen. In der für ihn kleiner gewordenen Welt widmet er dem Beobachten seiner Blumen und Pflanzen, der Vögel, Insekten, Amphibien, Schnecken und der herumschleichenden Katzen aus dem Quartier viel Zeit. Die Farben- und Formenpracht in der Natur mag er stundenlang bestaunen. Das scharfe Beobachten hält seinen Geist wach. Mit dem täglichen, bewussten Sich-Freuen an den Schönheiten und der Skurrilität der Natur hat sich für meinen Vater Johann eine neue Lebensqualität erschlossen. Durch die Fokussierung auf wenige, kleine schöne Dinge entwickelte sich eine neue Vielfalt, die das Leben für Johann lebenswert erhält und ihn mit stiller Freude erfüllt. Dankbarkeit, Gelassenheit und Zufriedenheit sind sein innerer Reichtum. «Hast du gesehen, wie das junge zarte Blatt meines Gummibaums heute aus seinem seidenfeinen Mäntelchen geschlüpft ist?» Die Schönheit des Lebens geht weiter.

Ruth Bielmann-Gerber
17.05.2021

Ratgeber 2016 Grimentz Vater 025 (2) Opt

Johann Gerber, Kehrsatz, Mai 2021

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