Der Alevismus ist eine aufs Diesseits ausgerichtete Religion. Dies hat einen starken Einfuss darauf, wie wir mit dem Sterben und dem Tod umgehen. Wir haben keine Vorstellung vom Jenseits, es gibt weder Himmel noch Hölle, die uns nach dem Tod erwarten. Wir Aleviten glauben, dass der Mensch bei seinem Tod in den «haq» (das Göttliche) eingeht. Das Göttliche ist in der gesamten Natur erlebbar. Es kann als mystische Weltenseele beschrieben werden, mit der man nach dem Tod wieder eins wird. Wir Aleviten sind sehr stark auf die Gemeinschaft bezogen. Unsere Rituale wie das «semah» (Tanz) suchen den Ausgleich in der Gemeinschaft, wollen die Harmonie zwischen dem Individuum und der Gruppe wieder herstellen. Ebenso verhält es sich auch mit den Ritualen, die den Tod eines Mitglieds der Gemeinschaft begleiten. Sie geben der ganzen Gemeinschaft Raum für ihre Trauer. Da wir uns nicht mit einem Jenseits trösten können, wird diese Trauer in grosser Intensität ausgedrückt. Der Verstorbene wird noch am Tage seines Todes begraben – das heisse Klima in unserer Herkunftsregion machte dies seit jeher notwendig. Der Friedhof liegt am Rande des Dorfes. Auf den Gräber standen traditionell Natursteine, ohne Beschriftung oder Symbole. In den ersten sieben Tagen nach dem Tod werden intensiv Trauerbesuche gemacht. Bis zum vierzigsten Tag sollten alle Personen, die den Verstorbenen kannten, die Trauerfamilie besucht haben. Der («çil») vierzigste Tag schliesst die Trauerperiode mit einem grosses Essen für alle Verwandten und Bekannten ab. Besonders charakteristisch für die Aleviten ist das Weine-Ritual – «shînî» genannt –, das wir in den ersten drei Tagen nach dem Tod wie auch am vierzigsten Tag durchführen. Die Trauernden versammeln sich in einem Raum, um gemeinsam zu weinen. In jedem Dorf gibt es traditionell eine Frau mit einer besonderen Gabe, die zu solchen Anlässen gerufen wurde. Sie besingt das Leben des Verstorbenen und seiner Angehörigen in improvisierten, klagenden Versen. Damit berührt sie die Schmerzen und Verluste aller Anwesenden und bringt sie zum Weinen. Man darf alle Zurückhaltung aufgeben, laut weinen und schluchzen und sich vor Schmerz schlagen. Ich habe dieses Ritual oft miterlebt und fand es sehr heilsam, die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen in der Gemeinschaft zu teilen.
