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Als 70-Jähriger bei den Erstklässlern

Senioren, die nochmals «zur Schule» gehen? Möglich macht das ein Generationenprojekt von Pro Senectute. Es soll den Unterricht bereichern. Ein Augenschein vor Ort.

«Guten Morgen, die beiden Herren», skandiert die Klasse 1a im Schulhaus Wyssloch beim Egelsee. Die Begrüssung gilt dem Journalisten und dem Fotografen des Bärnerbär. Artig erwidern wir den Gruss und stellen uns kurz vor, erläutern den Zweck unseres Besuchs. Die Kinder des 1. Schuljahres sitzen im Kreis auf den mit ihren Namen versehenen Bänken. Danach stimmt Lehrerin Marianne Stettler zum Lied aus dem Musical «D’ Chinderbrügg» an, die Instrumentalbegleitung kommt von einer CD.
Die Kinder singen auswendig und in Dialekt. Sonst wird im Unterricht konsequent hochdeutsch gesprochen. Darauf legt Marianne Stettler grossen Wert. «Damit möchte ich die Ausdrucksweise und den Wortschatz fördern.» Gesungen wird in der Klasse von Marianne Stettler häufig. Bis zur Pause um zehn Uhr hören wir insgesamt drei Songs aus dem Musical. Den Kindern scheints zu gefallen, sie singen mit Inbrunst und dabei ist der ganze Körper in Bewegung.

«Mein Hamster kann Handstand»
Bis zur grossen Pause stehen die Fächer Deutsch und Mathematik auf dem Stundenplan. Lehrerin Stettler lässt die Kinder zwischen verschiedenen Aufgaben wählen: «Ihr könnt an eurer Geschichte, im gelben Heft weiterarbeiten oder das Übungsblatt mit dem Umlaut ‹Üü› ausfüllen!» Die Erstklässler schwärmen aus und verteilen sich im Raum, zu zweit, zu viert. Einige setzen sich an ein Pult oder an einen Tisch, andere wiederum bevorzugen den Fussboden als Arbeitsplatz. Vorbei sind die Zeiten des Frontalunterrichts, als man paarweise an in Reih und Glied aufgestellten Pulten sass, die Lehrperson vorne am grossen Pult.
Jetzt ist die Zeit reif für den Einsatz der ältesten Generation im Klassenzimmer. Der 70-jährige Senior Markus Stöckli gesellt sich zu den Arbeitsgruppen, schaut den Kindern über die Schulter, gibt zielführende Hinweise, aber erst, wenn der Arbeitsprozess stockt oder wenn das Kind seine Hilfe wünscht. «Kreuze an: JA oder NEIN?» Die Seite aus dem gelben Heft enthält Sätze wie «Meine Augen sind blau», «Ich trinke gerne Kakao», «Ich habe einen Rüssel», «Mein Hamster kann Handstand».
Die Schüler können die insgesamt 15 Sätze mit Ja oder Nein beantworten. Die teils skurrilen Aussagen erzeugen bei der Gruppe von Malie, Björn und Manuel Gelächter. Manuels Lieblingsfach ist aber Mathematik. «Ich hatte beim Mathe-Domino alles richtig und im Mathe-Heft bin ich am weitesten», prahlt der Dreikäsehoch selbstbewusst und strahlt. Auch für die siebenjährige Malie zählt Mathematik zu den Favoriten. «Aber auch ein wenig Deutsch», fügt der Blondschopf leise hinzu. Björn benötigt beim Mathe-Domino am meisten Unterstützung, gesteht er.
Markus wird von den Kindern geduzt, er will es so. «Ich bin nicht einfach der zweite Lehrer, sondern übe die Rolle des ‹Klassen-Opas› aus», begründet er seinen Wunsch. Das ist auch für Lehrerin Marianne Stettler sehr wichtig: «Es ist spannend, wie er die Optik der älteren Generation in die Klasse einbringt, die Sicht des Grosspapas, den einige Kinder nicht mehr haben.»

Auch die Eltern findens cool
Die Teilnahme an diesem Generationenangebot von Pro Senectute ist sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Senioren freiwillig. Die fachliche und pädagogische Verantwortung liegt bei der zuständigen Lehrperson. Die Seniorinnen sind keine «Hilfslehrkräfte» und ersetzen keine Fachpersonen im Unterricht. Stettler bereut ihren Entschluss, einen Senior in ihrer Klasse zu engagieren, keineswegs. «Die Kinder freuen sich auf den Dienstagvormittag, wenn Markus in die Klasse kommt. Seine Lebenserfahrung ist bereichernd.»
Auch die Eltern fänden den Einsatz des Seniors cool, betont die Lehrerin. Wo setzt sie ihn im Unterricht konkret ein? «Markus ist immer dort, wo er will oder wo das Kind ihn ruft und benötigt. Bei den Übungen mit der Uhrzeit wird er beispielsweise in den einzelnen Gruppen die Uhrzeiten repetieren.» Markus Stöckli ist meist auch bei Klassenausflügen mit von der Partie, was Marianne Stettler als grosse Erleichterung empfindet.
Die Pause naht, die Kids holen ihr mitgebrachtes Znüni und setzen sich wieder an ihre angestammten Plätze im Kreis. Während sie hungrig ihre Zwischenmahlzeiten verzehren, liest Marianne Stettler aus dem Buch «Frosch und Kröte» vor – dies im Rahmen des Themas «Tiere im Regenwald». Selbst während des Essens fehlt die (spielerische) Bildungsvermittlung nicht. Das Pausenzeichen ertönt, die Kinder eilen nach draussen, derweil Senior Stöckli im Nebenraum den Kaffee für die Erwachsenen zubereitet und Gipfeli spendiert.

Peter Widmer

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