Slide Felix Gerber 1

Auch nach 15 Jahren entdeckt er das Münster jede Woche neu

Wenn Sigrist Felix Gerber von «seinem» Münster erzählt, gerät er ins Schwärmen und steckt damit die Besuchenden an. Auch wir konnten uns der Faszination seiner spannenden Schilderungen nicht entziehen. Die fünfte und letzte Folge der Bärnerbär-Sommerserie.

Felix Gerber begrüsst uns beim Hauptportal und lenkt unseren Blick nicht auf das bekannte Weltgericht, sondern auf den Boden zu den braunen Tonplatten. Wir können nichts Besonderes wahrnehmen. «Sehen Sie hier auf einigen Platten die kleinen Symbole und Zeichnungen? Diese stammen aus dem 15. Jahrhundert von Kinderhand.» Wir blicken ungläubig. Dokumentiert sei dies zwar nicht, wie vieles beim Münster. «Aber die Vermutung liegt sehr nahe. Die Tonplatten wurden in den Gassen zuerst zum Trocknen ausgelegt, bevor man sie brannte. Das war für die Kinder aus der Umgebung natürlich attraktiv, sich mit Händen und Füssen in der noch weichen Masse zu verewigen.» Es gehöre zu den Aufgaben eines Sigristen, mit wachen Augen durchs Gebäude zu gehen und zu versuchen, das Bauwerk zu lesen. «Ich bin nun im 15. Lehrjahr und stosse noch jetzt jede Woche ein- bis zweimal auf Elemente, die mir bisher nicht aufgefallen sind.» Das Gebäude sei ausgesprochen interdisziplinär erdacht worden, es erschliesse sich einem erst, wenn man auch mit Exponenten verschiedener Fachdisziplinen spreche. So sucht Gerber denn auch regelmässig das Gespräch mit Kunsthistorikern, Restauratorinnen, Theologen, Architektinnen und Steinmetzen, um Antworten auf seine Fragen zu erhalten.

Feueralarm im 15. Jahrhundert
Betriebsleiter Gerber führt uns in den Untergrund. Auf kleinen, engen und gewundenen Treppen gelangen wir in mehrere Räume. Gerber zeigt auf eine Öffnung, die direkt auf die Münstergasse führt. «Das war die alte Kohlenrutsche, auf der die Kohle von der Strasse in den Raum transportiert wurde. Ende des 19. Jahrhunderts, als man sich wieder fürs Münster zu interessieren begann, beschlossen die Verantwortlichen, das Münster künftig zu heizen», erzählt Felix Gerber. Der gesamte Boden der Kirche wurde aufgerissen, dann betonierte man insgesamt vier Tunnels längsseitig des Gebäudes ein für die Zirkulation der Warm- und Kaltluft. Heute stehen im Heizraum zwei Gas-Heizkessel. In einer winzigen Werkstatt stehen zwei Glocken. Der Sigrist reagiert sofort auf unsere fragenden Blicke: «Das sind die beiden Feuerglocken, welche früher im Turm hingen und zur Alarmierung dienten. Dafür zuständig waren die Turmwächter, die vom 15. bis Ende des 19. Jahrhunderts ihr Wachtlokal auf der Höhe der heutigen Turmwohnung hatten.» Zur Alten Wache am Casinoplatz bestand Sichtverbindung, die Wächter hingen eine Fahne und in der Nacht eine Laterne ans Turmgeländer. «Weiss bedeutete Polizei, rot Feuerwehr», weiss Felix Gerber zu berichten. Wir verschieben uns aus dem Untergrund wieder in die Kirche. Dabei fragen wir Felix Gerber, wie ein langjähriger Kader-Mitarbeiter der SBB zum Beruf des Sigristen kommt. Die Antwort kommt ohne Umschweife: «Meine Aufgabe war faszinierend und spannend. Aber es gab bei den SBB eine Phase der Umstrukturierungen und Reorganisationen; ich bekam immer mehr Mühe mit dieser Strategie, nötige Sachfragen blieben auf der Strecke. So wagte ich im berufich günstigen Alter von 41 Jahren einen Wechsel. Die Stelle war ausgeschrieben und ich wurde aus 76 Bewerbungen gewählt. Ich habe den Entscheid noch keine Minute bereut,» sagt er mit einem Leuchten in den Augen. Wir glauben ihm, seine Wissbegierde, sein inneres Feuer lodern nach wie vor. Nun stehen wir vor einem Wandcomputer beim Haupteingang. Hier steuert Betriebsleiter Gerber die Heizung und das Glockengeläut. «Im Moment haben wir 20 Grad Innentemperatur und 65 Prozent Luftfeuchtigkeit, alles bestens», stellt er zufrieden fest. Danach zeigt er uns die vom Münster-Organisten Daniel Glaus komponierten Partituren des Neujahrs-Glockenkonzerts. In unseren Augen sehen die Partituren aus wie Gemälde. Felix Gerber konkretisiert: «Ich rechne seine Aufzeichnungen um und halte alles auf einer Excelliste fest, dafür benötige ich zwei Tage. Eine Viertelstunde Geläut ergeben 18 Seiten Excel!»

Der «Glöckner von Notre Berne»
Minuziös hält Gerber mit verschiedenen Farben fest, wann und wie lange welche Glocke zu klingen hat, damit alles so tönt wie es sich der Komponist vorstellt. Manchmal sei etwas technisch nicht möglich, so etwa, wenn eine Glocke zu oft ein- und ausgeschaltet werden muss. «Dann wird der Motor heiss und träge und die Einsätze stimmen dann nicht mehr genau», erklärt der Glöckner von Bern. «Aber da raufen wir uns zusammen und fnden immer eine Lösung», schmunzelt er. Immer am Neujahrstag um 16 Uhr erklingen die Münsterglocken jeweils eine Viertel stunde. «Nach dieser Viertelstunde bin ich jeweils geschafft!», lacht Gerber. Verständlich, üben kann er die Komposition ja nicht im Stillen. «Gewiss, zwei, drei Patzer passieren meistens», gesteht er, «aber zum Glück ist die Komposition vorher niemandem bekannt!»

Die ewige Baustelle
Durch eine kleine Tür mit der Aufschrift «Zutritt nur für Befugte» betreten wir ein Herzstück der Kirche: die Hauptorgel. Sie wurde 1729 eingebaut und erlebte seither mehrere Renovationen und Umbauten, letztmals im Jahr 1999. Mit ihren 74 Registern und dem barocken Prospekt besitzt die Münstergemeinde eine Orgel, deren Qualität über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Durch eine schmale Treppe zwängen wir uns zur sogenannten Schwalbennestorgel an der Südwand des Chors. Sie wurde 1982 eingeweiht. Bereits um 1500 befand sich an der gegenüberliegenden Chorwand ein Instrument; der Zugang ist im Mauerwerk noch sichtbar. Auf der Schwalbennestorgel mit ihren 14 Registern werden Werke bis zum frühen 18. Jahrhundert gespielt. Übrigens: Höhenangst ist fehl am Platz, befndet sich doch die Orgel etwa 15 Meter über Boden und das Geländer ist niedrig … Nun befnden wir uns in der Bauhütte, wo Material der «ewigen Baustelle» gelagert ist. Die Hauptbauhütte befndet sich aber am Langmauerweg in Bern. Sehen wir das Münster einmal völlig ohne Gerüst? «Den Turm ja, das ganze Münster hoffentlich nicht», antwortet Felix Gerber. Zurzeit ist auf der Südseite noch der fligran wirkende Baulift sichtbar und im Inneren wird das Hauptschiffgewölbe restauriert. Das seit 1998 beauftragte Architekturbüro Häberli AG fand neue, günstigere und von aussen weniger sichtbare Lösungen, so dass der vielen Bernerinnen und Bernern bekannte, hässliche «hölzerne Rucksack» am Turm vor mehreren Jahren entfernt werden konnte. Der münstereigene Sandstein am Gurten für die Restaurationen wird heute nur noch selten abgebaut, da die heutigen Denkmalpfege-Methoden sehr präventiv und konservierender sind als früher.

Zum Schluss das Greisenbuch
Schliesslich gelangen wir in die ehemalige Turmwart-Wohnung. Bis 2007 war die 3 ½-Zimmerwohnung vom Turmwartpaar bewohnt, wurde dann jedoch für Bauarbeiten am Turm freigegeben. Die jetzige Turmwartin Marie-Therese Lauper hat hier noch lediglich ihr Büro. Der Turm wird in Zukunft nicht mehr bewohnt. Warum? Felix Gerber: «Die Leute verromantisierten diese Wohnung. Aber die Vorgänger durften die Fenster nicht offenhalten, die Touristen schmissen die Abfälle beim Vorübergehen einfach in die Wohnung oder hievten ihre Kinder durchs offene Fenster und beauftragten sie, Fotos oder Videos zu erstellen! Die Privatsphäre war nicht mehr möglich.» Ein Zimmer und der ein Stockwerk darüber liegende grosse Gewölbesaal kann heute für Sitzungen, Apéros und Seminare gemietet werden. Zum Schluss der schweisstreibenden Besichtigung erreichen wir die Achteckgalerie mit atemberaubender Aussicht. Ab dem 70. Altersjahr kann man sich im sogenannten «Turmbuech», dem ehemaligen Greisenbuch, verewigen. Der Schreibende erfüllt diese Voraussetzung noch nicht ganz und lässt den Eintrag daher bleiben.

Peter Widmer

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