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Bei «Pluto» träumt es sich ohne Angst

«Rêves sûrs – Sichere Träume» nennt sich der 2020 gegründete Verein, der junge Menschen in Notsituationen unterstützt. Wir haben mit den Betreibern der Notschlafstelle «Pluto» über erste
Erfahrungen gesprochen.

Schon bei der Bushaltestelle «Äussere Enge» weist ein Schild mit der Aufschrift «Pluto» auf die Notschlafstelle an der Studerstrasse 44 hin. Das ehemalige Einfamilienhaus wurde von der Stadt Bern sanft renoviert. Sozialarbeiterin Nicole Maassen und der Sozialpädagoge Robert Sans führen uns durch das zweistöckige, helle, geschmackvoll und zweckmässig eingerichtete Haus. Alle Schlafräume tragen Namen von weiteren Planeten: Jupiter, Merkur, Neptun. Die Namen sollen den jugendlichen Nutzerinnen und Nutzern vielleicht nicht gerade süsse, aber ganz bestimmt sichere Träume bescheren. Denn ganz freiwillig sind die 14- bis 23-Jährigen nicht hier, sie alle befinden sich in einer Notsituation.

Welche Jugendlichen suchen Ihre Notschlafstelle auf?
Nicole Maassen: Es sind Jugendliche aus prekären Wohnverhältnissen. Hie und da spielt auch häusliche Gewalt eine Rolle. In den gut zwei Monaten seit der Eröffnung von «Pluto» hatten wir bis heute – Stand 22. Juli – 26 Jugendliche mit insgesamt 219 Übernachtungen bei uns.
Robert Sans: Dabei handelte es sich mehrheitlich um männliche, volljährige Schutzsuchende.

Welches sind die häufigsten Gründe der jungen Menschen?
Sans: Die meisten Nutzer:innen befinden sich in der Übergangsphase in die Selbstständigkeit. Wenn beispielsweise schon ein längerer Konflikt im Herkunftsmilieu vorhanden ist, möchte sich der Jugendliche dieser Situation entziehen und strebt eine eigene Wohnsituation an. Oft sind die Jugendlichen bereits mit Sozialdiensten und Beiständen in Kontakt, aber es wurde noch keine Lösung gefunden. Genau während dieser Zeit können sie in unserer Notschlafstelle übernachten. Wir haben Besuchende, die bereits eine Tagesstruktur haben, aber eben auch andere, die erst auf der Suche danach sind.
Maassen: Ja, dann suchen wir zusammen mit den Jugendlichen und den genannten Ämtern und Fachstellen nach Anschlusslösungen.

Wie gehen Sie bei Minderjährigen vor?
Sans: Bei den minderjährigen Nutzer:innen müssen wir die obhutsberechtigten Personen informieren und diese müssen mit dem Aufenthalt in der Notschlafstelle einverstanden sein. Bei Gewaltsituationen nehmen wir Kontakt mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) auf. Da gibt es die Möglichkeit einer verdeckten Platzierung, wenn die Gefährdungssituation akut ist. Die meisten Minderjährigen sind bereits einem Hilfesystem wie Beistandschaft oder Sozialdienst angegliedert. So laufen viele Meldungen über diese Stellen.

Wenn eine minderjährige Nutzerin beispielsweise wünscht, dass niemand von ihrem Aufsuchen der Notschlafstelle erfahren soll, was machen Sie?
Maassen: Das könnte vorkommen, aber bisher war das kein Problem, wenn wir die obhutsberechtigte Person kontaktiert haben. Die Kontaktaufnahme muss auch nicht gleich am ersten Abend, aber so schnell als möglich und allerspätestens nach 48 Stunden erfolgen. Wenn eine Nutzerin angeben würde, sich auf die Strasse zu begeben, falls wir Meldung machten, haben wir diesen kleinen Spielraum. Es muss zuerst eine Vertrauensbasis zu uns aufgebaut werden. Wir arbeiten völlig transparent und unternehmen nichts ohne Absprache mit unseren Nutzer:innen. Wir setzen uns anwaltschaftlich ein und eruieren ihre Bedürfnisse.

Wie reagieren Eltern, wenn Sie sie benachrichtigen?
Sans: In den meisten Fällen informieren die Nutzer:innen ihre Eltern selber, aber wir fragen sie zuerst, ob wir das übernehmen sollen. Wir sind während des Gesprächs dabei und können den Verlauf mitverfolgen, das wird geschätzt. In den problematischsten Fällen ist meist eine Beiständin oder ein Beistand involviert.
Maassen: Eine Mutter äusserte sich kürzlich sogar erleichtert, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Kind bei uns in Sicherheit ist. Es ist uns wichtig, konstruktiv und kooperativ zusammenzuarbeiten.

Wie lange können Jugendliche längstens bei der Notschlafstelle übernachten?
Maassen: Die Jugendlichen können bis zu drei Monate bei uns schlafen. Zurzeit arbeiten acht Fachpersonen bei Pluto, pro Nacht sind immer zwei aus dem Team anwesend.

Was berücksichtigen Sie bei den Mahlzeiten?
Maassen: Das Frühstück besteht aus einem einfachen Buffet, wo sich die Nutzer:innen selber bedienen können. Wir achten auf eine ausgewogene, gesunde Ernährung. Auch vegetarische Gerichte stehen auf dem Speiseplan für die Abendessen. Zurzeit suchen wir noch einen Gemüselieferanten. Die Mahlzeiten werden von den jeweiligen Fachpersonen, die Dienst haben, zubereitet. Aber die Jugendlichen helfen uns bei der Küchenarbeit. Auch die Wäsche wird von den Nutzer:innen selbstständig gewaschen, wir haben dafür eine Waschmaschine.

Wie lautet Ihre Bilanz mehr als zwei Monate nach der Eröffnung?
Sans: Eine repräsentative Bilanz zu ziehen wäre noch zu früh, aber wir sind überrascht, wie hochfrequentiert wir schon sind. Bisher mussten wir bloss eine Person abweisen, weil wir bereits ausgebucht waren. Eventuell müssen wir die Öffnungszeiten etwas anpassen. Es gibt für das diensthabende Team lange Nächte und wenig Schlaf! Um Mitternacht ist Lichterlöschen, um sieben Uhr gibts Frühstück und um neun Uhr müssen die Nutzer:innen das Haus verlassen.
Maassen: Ich bin sehr zuversichtlich. Bis jetzt habe ich den Eindruck, dass es gut läuft. Aber Optimierungen sind jederzeit möglich, da sind wir offen.

Wie nahe gehen Ihnen die Schicksale der Jugendlichen?
Sans: Durch unsere Berufe haben wir ein professionelles Verständnis, jedoch ohne «abgestumpft» zu werden. Aber wir dürfen die Probleme der Jugendlichen nicht zu unseren eigenen werden lassen. Es ist wichtig, dass wir abschalten, uns abgrenzen können.

Wie finanziert sich der Verein respektive die Notschlafstelle?
Sans: Zurzeit werden wir von Schweizer Stiftungen finanziert, bei denen wir gezieltes Fundraising betrieben haben. Den Sozialdiensten verrechnen wir nach Absprache für die Notschlafstelle 180 Franken pro Nacht, einschliesslich Frühstück und Nachtessen. Der Jugendliche kann zu uns kommen, ohne vorher die Ämter zu informieren, es ist ein bewusst niederschwelliges Angebot. Im Verlaufe des Aufenthalts versuchen wir dann eine Kostengutsprache durch die Sozialdienste zu erwirken. Wir erhoffen uns natürlich für die Zukunft auch ein Engagement durch die Stadt Bern, obwohl die derzeitige städtische Finanzsituation nicht gerade dafür spricht. Aber durch unsere Arbeit verhindern wir Folgekosten. Im Bereich Kindsschutz ziehen wir ja am gleichen Strang. Alle sind daran interessiert, dass Jugendliche gut aufgehoben sind und wir gemeinsam tragfähige Anschlussmöglichkeiten finden.

Peter Widmer

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