Wird Matthias Aebischer neuer Stapi? Wie übersättigt ist Rot-Grün? Und was machen FDP und SVP falsch? Politanalyst Mark Balsiger beantwortet rund eineinhalb Jahre vor den Berner Wahlen wichtige Fragen.
Mark Balsiger, muss sich Alec von Graffenried für die Wahlen im Herbst 2024 warm anziehen?
Er sollte eine Herbstkollektion bereitlegen, ja (schmunzelt). Im Ernst: Die Wunden bei der SP aus den Wahlen 2016 sind noch nicht überall verheilt – gewisse Parteimitglieder erwarten von ihrem Spitzenpersonal, dass eine SP-Kandidatur von Graffenried herausfordert.
Bis jetzt gibt sich die SP der Stadt Bern in der Stapi-Frage eher zurückhaltend.
Eine Kampfansage würde das Klima sofort verändern. Doch innerhalb des seit Jahrzehnten dominierenden Rot-Grün-Mitte-Blocks gab es gerade in Wahljahren immer mal wieder Risse. 2016 fiel dieser Block sogar temporär auseinander und konnte einzig dank vieler Hintergrundgespräche von altgedienten, gut vernetzten Parteimitgliedern wieder zusammengefügt werden.
Was würde eine Stadtpräsidentin Marieke Kruit ganz generell verändern?
Würde eine Frau gewählt, wäre sie die erste Berner Stadtpräsidentin; Alec von Graffenried verhinderte diese Premiere 2016. Kruit als Stapi wäre ein Triumph für die mit Abstand stärkste Partei, die SP, die 2016/2017 mit der Nichtwahl von Ursula Wyss gedemütigt worden war. Das SP-Lager macht sich Hoffnungen, zumal diverse Leute nach bald sieben Jahren mit Alec von Graffenried als Stapi ernüchtert sind. Er hat bislang eine fahrige Spur gezogen. Daran ändert selbst ein viertägiges Seminar für Bürgermeister in New York nichts.
Ein netter Kerl, aber kein Visionär?
Alec von Graffenried kann es gut mit den Menschen. Was ihm abgeht, ist ein politischer Kompass, strategisches Geschick und die Fähigkeit, überzeugend zu kommunizieren. Natürlich drängt sich ein Vergleich mit seinem Vorgänger Alexander Tschäppät auf – der hat zwar ab und zu über die Stränge geschlagen. Doch immer, wenn es drauf ankam, klinkte er sich ein, las das Spiel – und lieferte.
Droht der GFL 2028 der grosse Zusammenbruch, da von Graffenried spätestens ab dann nicht mehr in der Stadtregierung sein wird, er aber für die GFL das Zugpferd ist?
Schafft die GFL es nach von Graffenried nicht, mit einem Sitz in der Stadtregierung zu bleiben, besteht die Gefahr eines Auflösungsprozesses. Die GFL existiert einzig noch in der Stadt Bern, hier zählt sie knapp 200 Mitglieder. Im Stadtparlament gibt es nicht weniger als fünf Parteien, die das Wort «grün» im Namen führen. Sich von den anderen abzugrenzen, ist anspruchsvoll.
Die Abgänge von Reto Nause und Franziska Teuscher per Ende 2024 waren klar – jener von Finanzdirektor Michael Aebersold hingegen kam aus heiterem Himmel.
Mich hat diese Ankündigung nicht überrascht. Ich ging schon länger davon aus, dass er nach acht Jahren aufhört. Gemeinderat zu sein, ist ein Verschleissjob – erst recht als Finanzdirektor, mit einem Schuldenberg von 1,4 Milliarden Franken, der stetig grösser wird. Daran ist Aebersold nicht ganz unschuldig. Er ist nicht derjenige, der den anderen resolut auf die Finger klopft, obschon er das tun müsste. Er ist kein Sparfuchs. Wer als Vollzeitpolitiker merkt, wie der Job an einem zu nagen beginnt, der empfindet vier weitere Jahre eher als acht. Von daher ist es eine weise Entscheidung für ihn als Menschen, aufzuhören.
Wer beerbt ihn? Wer ist in der Poleposition? Ist es Matthias Aebischer?
Es liegt auf der Hand, dass bei der SP bilaterale Gespräche stattfinden, um Marieke Kruit von einer Kandidatur zu überzeugen. Sie hat bis jetzt gute Arbeit geleistet. Und dass parallel dazu Matthias Aebischer angefragt wird, für den Gemeinderat und gleichzeitig das Stadtpräsidium zu kandidieren. Er hätte das Zeug, den Bisherigen herauszufordern, ja, ihn zu schlagen. Vielleicht überlegt er sich eine Kandidatur ernsthaft, denn er befindet sich gerade in einer kniffligen Phase.
Wie meinen Sie das?
Aebischer hat Jahrgang 1967, wegen der Amtszeitbeschränkung kann er nur noch bis Ende 2027 im Nationalrat bleiben. Er hat mehrere Kinder und braucht folglich auch in Zukunft einen Job mit gutem Einkommen. Im Wahljahr 2011 investierte er seine ganze Energie für den Quereinstieg vom Fernsehen in die Politik. Zur Überraschung vieler ist ihm das gelungen, er überflügelte auf der Nationalratsliste sogar Alexander Tschäppät. Das musste man erst einmal schaffen! Möglicherweise reizt ihn ein zweites Husarenstück.
Bloss: Matthias Aebischer ist keine Frau.
Ein wichtiger Punkt. Lebt die SP hingegen echte Gleichstellung vor, müsste auf Aebersold ein Mann folgen. Dann hat sie ja weiterhin einen Mann und eine Frau im Gemeinderat. Aebischer ist populär, mit seiner Kampfkandidatur hätten wir eine echte Auswahl.
Aus Sicht der Mitte hinterlässt Reto Nause eine Lücke. Die GLP könnte sich den Sitz schnappen, riskiert mit ihrem Alleingang allerdings, am Ende mit leeren Händen dazustehen.
Der Stellungsbezug der Grünliberalen ist selbstbewusst. Sie schlugen früh Pflöcke ein und sagen klar: Nein, wir wollen kein Bündnis mit der SVP eingehen. Sie sind in der Stadt Bern mittlerweile die drittstärkste Kraft und performen auch national gut. Nachdem sie mehrmals Steigbügelhalter für Nauses Wiederwahl war, sagt sich die GLP nun natürlich: «Jetzt sind wir an der Reihe!» So wie ich die Basis der GLP einschätze, sind die inhaltlichen und atmosphärischen Differenzen zur SVP tatsächlich gross. Dazu haben die Grünliberalen mit Kathrin Bertschy, Marianne Schild und Melanie Mettler sehr gutes Personal, das nach links wie nach rechts ausstrahlt. Aber ja, das Risiko besteht, am Schluss leer auszugehen. Für einen Sitz im Gemeinderat muss eine Liste 16 Prozent erringen – diese Hürde ist hoch.
Somit könnten gleich fünf links-grüne Personen in den Gemeinderat gewählt werden.
Rot-Grün-Mitte RGM wird wie 2020 darauf verzichten, fünf Personen zu nominieren. Der RGM-Block ist übrigens kontinuierlich gewachsen: 2004 betrug sein Wähleranteil 49 Prozent, vor vier Jahren 63. Die RGM-Leute mögen nun behaupten, sie seien wahnsinnig gut. Ich halte dagegen und sage: Sie werden nie richtig herausgefordert. Weil die Restbürgerlichen nicht in die Gänge kommen. Sie sind dauerfrustriert.
Was machen sie denn falsch? Der Zustand von FDP und SVP in der Stadt Bern ist ja schon fast tragisch.
Wollen sie wieder ein ernsthafter Player werden, braucht es eine langjährige Strategie mit den sogenannten 3 «P».
Nämlich?
Zunächst braucht es ein Programm. Zweitens einen Plan, einen Schlachtplan. Drittens das richtige Personal. Als parteiloser Bürger dieser Stadt wünsche ich mir einen intensiven Ideenwettbewerb.
Also ist Rot-Grün träge, trotz demokratischer Legitimation? Übersättigt möglicherweise?
Dieses Phänomen lässt sich in allen Bereichen beobachten. Der Mensch ist von Natur aus ein ökonomisches Wesen. Wenn er mit geringeren Anstrengungen gute Resultate erzielen kann, macht er das so. Das ist politisch zwar bedauerlich, weil gewisse rot-grüne Ansätze viel häufiger infrage gestellt werden müssten. Das machen GFL und GLP punktuell, die FDP regelmässig. Von der SVP hingegen kommt zu wenig substanzielle Kritik.
Wie beurteilen Sie den neuen gesellschaftsliberalen Kurs der FDP, der sich vom rechtsbürgerlichen Kurs von früher deutlich abhebt?
In einer links-grünen Stadt wie Bern muss sich eine FDP bewegen, sie sollte wie ein Seismograph unterwegs sein. Das hat sie in der Vergangenheit verpasst. Die Welt verändert sich. Bis sich die Neupositionierung einer Partei auszahlt, dauert es ein paar Jahre. Sie darf nicht gleich alles wieder hinschmeissen, wenn sich der Erfolg nicht schnell einstellt. Bei den Abstimmungen im Juni fand ich den Fokus auf die Parkplatzgebühren falsch: Damit wurde das alte Image der Partei gefestigt. Parkplätze sind kein Winner-Thema.
Schlussfrage: Stimmt die Ostermundiger Bevölkerung der Fusion mit Bern zu?
Vom Gefühl her könnte man schlies–sen, ein Ja würde näherliegen. Aber: Bis zur Wahl im Oktober dauert es noch lange. Gegen die Fusion zu sein, wäre für einen Lokalpolitiker die grosse Bühne, um sich zu profilieren. Ich schliesse keine Wetten auf ein Ja in Ostermundigen ab. Das offizielle Bern wiederum versprüht seit Jahren beeindruckend viel «feu sacré» (zwinkert mit den Augen).
Yves Schott
PERSÖNLICH
Mark Balsiger, Jahrgang 1967, hat an der Uni Cardiff Journalistik sowie an der Uni Bern Geschichte und Politologie studiert. Seit 2002 führt er eine Kommunikationsfirma, die Schwerpunkte in Krisenkommunikation, Medientraining, Öffentlichkeitsarbeit und Politik-Analyse setzt. Bislang hat er drei Bücher über politische Kommunikation geschrieben. Balsiger lebt in Bern.