Brigitte Studer, emeritierte Geschichtsprofessorin der Uni Bern, bezeichnet sich als Feministin. Wieso sie am 14. Juni trotzdem nicht auf die Strasse geht und wie sie die Nein-Parolen von 1971 aus heutiger Sicht einordnet.
Frau Studer, wann entstanden die ersten Bemühungen der Frauen für die Gleichstellung?
Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es explizite Forderungen einzelner Frauen fürs Frauenstimmrecht und nach der Jahrhundertwende wurde
der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht gegründet, welcher international vernetzt war. Diese Organisation setzte sich dann während Jahrzehnten für das Frauenstimmrecht ein. Es waren gegen 90 Abstimmungen auf allen Staats-
ebenen nötig, bevor 1971 respektive 1991 das Frauenstimmrecht gesamtschweizerisch endlich eingeführt werden konnte. Es waren ungefähr hundert Jahre Kampf dafür nötig!
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Nein-Parolen von 1971 sehen?
Da kam eine schier unglaubliche symbolische und strukturelle Gewalt zum Ausdruck, indem Frauen an bestimmte Orte verwiesen werden sollten und man ihnen eines der Grundrechte der Demokratie verweigern wollte. Es war eine unglaubliche Anmassung von Männern, über Frauen zu entscheiden, was diese dürften und was nicht! Man hielt Frauen für politisch inkompetent. Das gibt es auch heute noch. Politikerinnen erleben in vielen Fällen nach wie vor, dass sie anders beurteilt werden als Männer.
Am 14. Juni findet in der ganzen Schweiz wieder ein Frauenstreiktag statt. Wie bedeutend erachten Sie ihn?
Was jetzt stattfindet, ist eine Institutionalisierung des Frauenstreiks. Wichtig scheint mir die Mobilisierung, denn es gibt noch zahlreiche Anliegen, die nicht realisiert sind. Die Themen müssen wiederholt in die Öffentlichkeit getragen werden, denn ohne politischen Druck verändert sich nichts.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Frauenstreiktage bei jährlichen Wiederholungen an Bedeutung verlieren, dass sie zur unbeachteten Routine werden?
Ja, diese Gefahr besteht. Durch jede repetitive Mobilisierung bildet sich aber auch eine Tradition, die es bestehenden Gruppierungen erlaubt, aktiv zu bleiben und ihre Netzwerke zu erhalten. Wenn dann ein neues «Skandal-Thema» aufkommt, das viele zu mobilisieren vermag, sind die Organisationsstrukturen und Netzwerke schon vorhanden. Das sehe ich als Vorteil einer regelmässigen Wiederholung.
Gehen Sie am 14. Juni auch auf die Strasse?
Nein, ich bin nicht aktiv. In den 70er-Jahren war ich Mitglied der Neuen Frauenbewegung. Ich habe heute andere Prioritäten und bin intellektuell engagiert in Frauenanliegen, aber nicht als Demonstrantin auf der Strasse.
Bezeichnen Sie sich selbst als Feministin?
Ja.
Warum?
Eine Feministin setzt sich für gleiche Rechte ein und geht von der Idee aus, dass jeder Mensch, unabhängig von seinem Geschlecht, gleichgestellt und chancengleich sein muss.
Am diesjährigen Frauenstreiktag stehen drei Forderungen im Vordergrund. Welche Meinung vertreten Sie dabei? Erstens: «Frauenrenten, die zum Leben reichen.»
Das ist auf jeden Fall berechtigt. Das Problem liegt vor allem bei der zweiten Säule, also der beruflichen Vorsorge. Sie wurde aufgebaut als Altersversicherung auf der Grundlage der männlichen Erwerbsbiografie, des «Familienernährers». Die Rente der Frauen ist rund 60 Prozent niedriger als jene der Männer.
Zweitens: «Echte Gleichstellung bei den Löhnen und der unbezahlten Arbeit.»
Auch diese Forderung ist hochaktuell. Wir haben auch heute noch vielerorts eine Lohndifferenz von bis zu 20 Prozent. Wenn wir noch die unbezahlte Arbeit einbeziehen, dann sind die geschlechtsspezifischen Gesamteinkommensunterschiede noch viel höher. Wenn Männer und Frauen dieselbe Anzahl Arbeitsstunden leisten, dann verdienen Frauen nur wenig mehr als die Hälfte als die Männer, da sie den Grossteil der unbezahlten Arbeit leisten.
Sind Sie denn der Meinung, dass die Hausarbeit – auch heute noch meist von Frauen ausgeführt – bezahlt werden müsste?
Nein, dieser Auffassung bin ich nicht. Dazu gibt es aber unter Feministinnen unterschiedliche Meinungen. Für mich ist das keine nachhaltige Forderung, weil sie die bestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eher verfestigt als verändert.
Drittens: «Keine Erhöhung des Frauenrentenalters.»
Auch diese Forderung kann ich unterstützen. Die bestehenden Diskriminierungen der Frauen sind weiter existent. Sobald die Gleichstellung realisiert ist, erachte ich die gleiche Alterslimite für Männer und Frauen
als völlig berechtigt, aber zurzeit nicht. Es gibt keinen Grund, dass Frauen die Defizite der Altersversicherung finanzieren müssen.
Welche Bereiche der Gleichstellung können seit 1971 als erreicht betrachtet werden?
Es sind gesetzliche Verbesserungen erreicht worden. Ich denke ans Gleichstellungsgesetz, das beispielsweise ermöglicht, bei Lohnungleichheit zu klagen. Es wird allerdings sehr wenig genutzt. Eine wichtige Errungenschaft ist auch der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe, anerkannt allerdings erst 1992. Weitere Punkte sind die Fristenlösung 2002 und die Mutterschaftsversicherung, auch erst 2005 eingeführt.
Während in den übrigen Ländern Europas längst eine Elternzeit von mindestens 40 Wochen eingeführt ist, bildet die Schweiz mit lediglich 14 Wochen für die Mütter und zwei Wochen für die Väter das Schlusslicht. Warum?
Die Schweiz ist einerseits ein konservativer und andererseits auch ein liberaler Staat. Konservative Kreise möchten die traditionelle Familienordnung erhalten. Auf der anderen Seite werden aus liberaler Sicht weniger Staatsausgaben angestrebt. Dieses Zusammenspiel hat sich gegen die Forderungen der Frauen ausgewirkt.
Wie hat sich der Frauenstreik in den letzten Jahren verändert?
Beim Frauenstreik 2019 hat die Anzahl der Teilnehmerinnen im Vergleich zum Streik von 1991 zugenommen. Es waren mehr junge Frauen dabei. Auch die politische Unterstützung war beim Streik von 2019 viel breiter. Vor 30 Jahren war sie fast ausschliesslich gewerkschaftlich. Der Bund schweizerischer Frauenvereine konnte sich damals nicht durchringen, den Anlass zu unterstützen. Heute sind Gleichstellungsforderungen und feministische Anliegen breiter legitimiert.
Wo besteht aus Ihrer Sicht der grösste Nachholbedarf in Bezug auf die Gleichstellung?
Der springende Punkt ist die sogenannte Care-Arbeit für Kinder, Familie oder Kranke. Solange diese so ungleich verteilt ist, werden sich die Hierarchien auf dem Arbeitsmarkt, aber auch im privaten Bereich, aufrechterhalten.
Haben Sie selbst ebenfalls Diskriminierungen erleben müssen?
Durch meine gute Ausbildung bin ich privilegiert und Lohndifferenzen waren nie evident. Aber eine Anekdote aus den frühen 80er-Jahren kommt mir dabei in den Sinn. Nach dem Lizentiat habe ich zwei Jahre in der Stadtverwaltung von Freiburg als Übersetzerin und Archivarin gearbeitet. Der Chef der Finanzabteilung erklärte mir damals die Funktion der zweiten Säule. Der Blick auf meinen Lohnausweis entlockte ihm den Ausruf: «Sie verdienen aber gut als Frau!» Auch unterbrach er seine Schilderungen zur beruflichen Vorsorge und bemerkte: «Es hat eigentlich gar keinen Sinn, wenn ich Ihnen alles erkläre. Sie sind eine hübsche junge Frau und werden bestimmt heiraten, dann müssen Sie sich nicht mehr um solche Dinge kümmern.» Das waren klassische Argumente jener Zeit.
Peter Widmer