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«Die Situation ist schon fast paradox»

Volle Auftragsbücher, aber ein Mangel an Fachkräften. Berns Industrie brummt, sagt Sebastian Friess, Leiter des Amts für Wirtschaft. Obwohl gleichzeitig das Gespenst der Inflation herumgeistere.

Sebastian Friess, von Ihnen als Person wie auch als Amt liest man in den Medien fast nie. Salopp gefragt: Was tun Sie eigentlich den lieben langen Tag?
Wir haben eine standortfördernde Funktion: Wir sind Partner für ein Unternehmen, wenn es eine Frage hat, etwa bezüglich Projektförderung oder im Tourismus. Wir organisieren das Aussennetz, damit sich ausländische Firmen hier ansiedeln. Wir finanzieren die wichtigste Förderagentur des Kantons. Und dann sind wir ganz nüchtern für die Einhaltung von Gesetzen zuständig: Sicherheit am Arbeitsplatz, Baustellenkontrollen, Schwarzarbeitsbekämpfung, Drittstaatenkontingente, Ladenöffnungszeiten und vieles mehr.

Wie steht es Stand heute um den Wirtschaftsraum Bern sowie den Kanton als Ganzes?
Wir haben drei Jahre Krisenmodus hinter uns. Die Herausforderung ist es, nun wieder in die Zukunft zu blicken. Leider geistert das Gespenst der Inflation herum, das in der Schweiz zum Glück weniger ausgeprägt ist als in anderen Ländern. Andererseits, und das scheint fast paradox, melden produzierende Betriebe volle Auftragsbücher und einen Mangel an Fachkräften. Die Energiekrise ist medial ein grosses Thema, in der Wirtschaftswelt hingegen eher vereinzelt.

Zusammenfassend heisst das?
Eigentlich geht es der Wirtschaft sehr gut, sie kämpft indes mit schwierigen Rahmenbedingungen.

Der Wirtschaftsraum Bern steht also nicht schlechter da als vor der Krise?
Das denke ich nicht, nein. Etliche Unternehmen haben Corona als Chance, beispielsweise für die Digitalisierung, genutzt. Die Zeiten des Jammerns sind jedenfalls vorbei!

Der Kanton Bern ist, das geht oft vergessen, der grösste Industriekanton. Was braucht es, damit er wirtschaftlich florieren kann?
Sie können mit den Firmen oder mit unserem Amt sprechen – sie werden wohl stets die gleiche Antwort erhalten: Er benötigt genügend Boden und qualifizierte Fachkräfte. Letztere sind ein wichtiges Thema, denn in diesem Punkt kann der Staat kurzfristig nichts zu einer Verbesserung beitragen. Dann die Steuern …

Tiefe Steuern?
Eine stabile, verlässliche Steuerpolitik ist manchmal wichtiger als eine Tiefsteuerstrategie. Aber sicherlich tiefere Unternehmenssteuern als heute, ja.

Industriekanton Nummer eins in der Schweiz – und trotzdem ist Bern ein Nehmer- und kein Geberkanton. Wie kommt das überhaupt?
Das hat vor allem historische Gründe. Sehen Sie: Wir werden 2023 nicht plötzlich zu einem Geberkanton werden, doch wir verbessern uns laufend und treten aus der ewigen Nehmer-Schlusslichtposition langsam heraus. Wichtiger wäre, darüber zu reden, wo unsere wirtschaftlichen Stärken liegen. Wir beherbergen im Kanton Bern stille Weltmarktführer, sogenannte «Hidden Champions».

Zum Beispiel?
Wir verfügen über wenige, dafür umso ausgeprägtere wirtschaftliche Stärken. Die wichtigste davon ist die Hochpräzisionsfertigung, die natürlich eng verbunden ist mit der Uhrenindustrie. Diese ist auch deshalb so stark, weil sie auf ein Zuliefernetz zählen kann, das ihnen die entsprechenden hochwertigen Bauteile liefert: präzise Schrauben, kratzfestes Gold, komplexe Drehteile und so weiter. Von diesen Firmen liest man in der Öffentlichkeit selten, dort liegt allerdings das wirtschaftliche Fundament dieses Kantons: hohe Lernenden-Quote, 100 Prozent Eigenkapital, seit Generationen in Familienhand. Einher damit geht der Medizinalsektor, dessen Unternehmen häufig auf die selben Zulieferer vertrauen. Maschinenbauer, Robotik-Unternehmen, Softwareentwickler. Dieses enge Netz macht den Kanton Bern stark.

Trotz all dieser Entwicklungen und Fortschritte schneidet der Kanton Bern in der Öffentlichkeit meist schlecht ab.
Das stimmt. Das hat zum einen mit hervorragendem Marketing anderer Standorte zu tun – das sage ich übrigens mit grossem Respekt. Zum anderen mit einer gewissen Zurückhaltung unsererseits. Wichtig ist die vorhandene Substanz und nicht die Platzierung in einem Ranking.

Ein Wort zur kantonalen Wirtschaftsstrategie 2025: Sie stammt aus dem Jahr 2011 …
Sie ist in weiten Teilen überholt, was mitunter den letzten drei Jahren geschuldet ist. Die meisten Massnahmen wurden entweder umgesetzt oder sind bereits obsolet.

Nämlich?
In der Medizinalstandort-Strategie haben wir mehr erreicht als angedacht – und das ist gut so. Stichwort: sitem-insel und andere Leuchttürme. Vieles ist ausserdem noch in der Pipeline. Wir haben uns generell häufig gefragt, ob eine Neuauflage dieser Strategie nötig wird. Ich persönlich finde Ja, doch der Kanton hat heute auch viele andere wichtige Strategiedokumente, zum Beispiel die Regierungsrichtlinien.

Nachhaltigkeit ist in diesen Zeiten ein Stichwort, an dem niemand vorbeikommt. Macht der Kanton Bern diesbezüglich seine Sache gut?
Es existieren mit der Umweltstrategie und dem Nachhaltigkeitsbericht bereits mehrere Grundlagen. Wir werden sie mit Unternehmensangeboten zum Thema Kreislaufwirtschaft ergänzen. Nicht ideologisch-grün orientiert, sondern aufgrund der Bedürfnisse der Unternehmen, etwa wenn sie in Lieferschwierigkeiten geraten.

Wie nehmen Sie die Stadt Bern als wirtschaftliches Zentrum wahr?
Die Stadt hat eine interessante Struktur: Da finden sich einzelne gewichtige Industrie-Player, über die nur spärlich berichtet wird. In der Agglomeration ist unter anderem einer der bedeutendsten Kommunikationsdienstleister der Schweiz ansässig. Daneben existiert eine feine, nahezu unbekannte IT-Szene in der Stadt Bern. Dann gibt es auch noch eine sehr aktive Start-up-Szene.

Von den verhärteten Fronten zwischen links und rechts kriegen Sie nichts mit?
Da halten wir uns absichtlich raus. Richtungsdiskussionen sind normal. Dazu ein Beispiel: Die Stadt Bern wollte die Abendöffnungszeiten der Läden von Donnerstag auf Samstag verlegen – hier herrscht seit Jahren ein Zwist zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Wir haben dann Hand zu einem Pilotprojekt geboten, sollte es zu einer Einigung zwischen den beiden Parteien kommen. Nur haben wir bis heute keinen solchen Antrag erhalten.

Was wünschen Sie dem Kanton Bern für 2023?
Eine stabile zukunftsorientierte Wirtschaft gemäss der Haltung: viel richtig machen und wenig darüber reden. Es steht uns gut an, zu sagen, wer wir sind und was wir können. Damit hat sichs aber.

Yves Schott

Sebastian Friess, geboren 1975, ist promovierter Chemiker und Ökonom. Nach einer Tätigkeit in der Privatwirtschaft baute er sieben Jahre lang eine nationale Innovationspolitik auf und leitete komplexe Projekte, darunter die Entwicklung des Schweizerischen Innovationsparks. Der deutsch-schweizerische Doppelbürger leitet seit 2019 das kantonale Amt für Wirtschaft und lebt in Muri.

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