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«Ein Herantasten an Alkohol gehört dazu»

Alkohol an sich verteufelt Markus Wildermuth, Suchtexperte beim Blauen Kreuz, nicht. Im Gespräch mit dem Bärnerbär zeigt er auf, wo die Grenzen und Gefahren sind, vor allem bei Jugendlichen.

Die jährliche Studie, die Sie bei knapp 1000 Jugendlichen im Kanton Bern durchgeführt haben, hat ergeben, dass immer mehr Jugendliche ohne Bedenken Alkohol konsumieren. Läuten bei Ihnen nun die Alarmglocken?
Ja, wir sind darob schon etwas erschrocken. Wir gingen davon aus, dass die Sensibilität – mindestens vor der Pandemie – gestiegen ist, dass Alkohol für Kinder und Jugendliche per se kein gesundes Produkt ist. Aber wir hoffen, dass diese Bedenkenlosigkeit nur eine vorübergehende Phase ist.

Aber die meisten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren suchen doch Grenzerfahrung und trinken mal einen über den Durst …
Das Probieren gehört dazu, das wird sich auch künftig nicht ändern. Die Frage ist aber: Was passiert danach? Wird der hohe Alkoholkonsum im Jugendalter später zur Regelmässigkeit? Das kann mit steigendem Alter zu Abhängigkeit führen. Das Heikelste bei Jugendlichen sind die Folgen, wenn sie betrunken sind. Ich denke an Schlägereien oder Unfälle. Was geht ab mit Fotos und Filmen in den sozialen Medien? Solche Ereignisse haben oft Auswirkungen für die Zukunft.

Haben Sie Zahlen, wie viele Jugendliche später alkoholabhängig werden?
Man weiss, dass es heute schweizweit etwa 250000 alkoholabhängige Menschen gibt. Die Zahl der Jugendlichen, die mal einen über den Durst getrunken haben und später abhängig wurden, kennen wir allerdings nicht. Aber glücklicherweise ist das Rauschtrinken meist nur im Jugendalter ein Thema, dann nimmt die Trunkenheit ab etwa 25 Jahren generell stark ab. Oft konzentrieren sich die Saufgelage nicht mehr auf die Wochenenden, sondern der Konsum verteilt sich in kleineren Mengen auf mehrere Tage, weil sonst der Körper nicht mehr mitspielt.

Welche Art von Alkohol konsumieren denn die Jugendlichen in welchem Alter?
Bei jungen Erwachsenen ist es nach wie vor Bier. Sehr in sind Süssgetränke, vermischt mit Wodka oder Alkopops. Oft werden diese Getränke schon zuhause vor dem Ausgang eingenommen, um sich «warmzutrinken». An unseren Präventions-Workshops stellen wir fest, dass der Probierkonsum bei der Hälfte in der Gruppe mit 11, 12 Jahren anfängt. Es gibt natürlich auch Jugendliche, die den Alkohol nicht mögen und daher kein Interesse zeigen. Je älter sie werden, desto mehr nimmt der Konsum zu.

Wie viel wird denn konsumiert?
Der Konsum konzentriert sich in der Regel auf die Wochenenden, welche bereits schon donnerstags beginnen können. Da beschränken sich gewisse Jugendliche nicht auf zwei Gläser Bier, sondern sie suchen den Rausch. Es gibt aber auch solche, die vielleicht mal abgestürzt sind und aufgrund des Kontrollverlusts das massvolle Trinken pflegen, verteilt auf mehrere Stunden. Davon werden sie nicht betrunken.

Trinken Erwachsene mehr als Jugendliche?
Tendenziell ja. 25-Jährige und Ältere nehmen tendenziell täglich Alkohol zu sich und die Jugendlichen meist nur an Wochenenden.

Ab wann ist es denn eigentlich zu viel? Wie viel Alkohol pro Woche liegt drin?
Laut offizieller Empfehlung sollten erwachsene Frauen nicht mehr als ein Standardgetränk (1dl Wein, 3dl Bier, 3cl Schnaps) und Männer nicht mehr als zwei Standardgetränke pro Tag trinken. An zwei Tagen in der Woche sollte man nichts trinken, damit sich der Körper regenerieren kann.

Ist es Ihr Ziel, dass die Jugendlichen ganz vom Alkohol wegkommen oder zu einem «normalen», massvollen Genusskonsum gelangen?
Beides. An die unter 16-Jährigen appellieren wir, dass sie wenig bis gar keinen Alkohol konsumieren und dass sie sich nicht schon regelmässig «die Kappe füllen» sollen. Theoretisch müsste man ihnen sagen können, bis 20-jährig möglichst wenig zu trinken, weil sich das Gehirn bis zu diesem Alter noch entwickelt. Aber wir sind realistisch, das schaffen wir bloss bei einem Teil der Jugendlichen. Ab 16-jährig motivieren wir sie zu einem Konsum, der für sie und das Umfeld nicht schädigend ist nicht zu regelmässig und nicht zu viel.

Dann ist für Sie also Alkohol per se nicht des Teufels?
Nein. Ich sehe einen grossen Unterschied zwischen Alkohol- und Nikotinprodukten. Alkohol macht weniger schnell abhängig als Nikotin. Ich behaupte, die meisten Menschen lernen einen massvollen, unproblematischen Alkoholkonsum. Und das beginnt halt spätestens im Alter ab etwa 16 Jahren.

Gibt es Unterschiede im Alkoholkonsum zwischen Jungs und Mädchen?
Ja, nach wie vor trinken Jungs und junge Männer mehr als Mädchen und Frauen. Männer sind meist schwerer und haben mehr Wasser im Körper als Frauen. So verteilt sich der Alkohol im Körper eines Mannes besser. Kommt dazu, dass der Mann auch das bessere Enzym hat, der Alkohol baut sich rascher ab. Allerdings stellen wir fest, dass sich «Modis» tendenziell vermehrt «volllaufen» lassen, das ist heute weniger ein Tabu als früher.

Welche Beobachtungen haben Sie beim Alkoholkonsum während der Pandemie gemacht?
Eine Studie von Sucht Schweiz hat festgestellt, dass der Konsum bei den über 25-Jährigen abgenommen und bei den 15- bis 24-Jährigen zugenommen hat.

Worauf führen Sie das zurück?
Da gibt es verschiedene Mutmassungen. Ich vermute, dass der begrenzte Lebensraum für die Jugendlichen eine massivere Auswirkung auf das Wohlbefinden hatte als für die Erwachsenen. Zudem ist die Bewältigungsstrategie bei jungen Menschen weniger ausgeprägt. Auch gab es mehr Homepartys, alles spielte sich in einem weniger sozial kontrollierten Rahmen ab als im Normalfall.

Kann jemand, der alkoholabhängig ist, nach einer erfolgreichen Therapie zu einem «normalen» Alkoholkonsum zurückfinden oder bleibt er oder sie lebenslänglich gefährdet?
Eine wichtige Frage! Wenn sich ein Mensch einmal in einer Sucht befand, verändert sich auch die Hirnchemie. Diese Neuverdrahtungen im Hirn bringt man nie zu hundert Prozent weg. Folglich bleibt man immer gefährdet. Es gibt aber durchaus Menschen, die es schaffen, einen unproblematischen Konsum zu pflegen. Doch sie bleiben in der Minderheit. Bei einschneidenden Ereignissen wie Todesfall, Trennung, Krankheit, Jobverlust etc. kann es allerdings sehr rasch gehen, dass man auf den früher eingeschlagenen Weg, der einem damals vermeintlich geholfen hat, zurückfällt. Jede Abhängigkeit hat auch eine positive Seite, so paradox das tönt.

Welche?
Sie vermittelt eine trügerische Sicherheit, man weiss, was man hat und was nicht. Aber letztlich zerstört die dauernde Abhängigkeit das Leben. Es ist zweifellos schwierig, nach der Sucht einen unproblematischen Alkoholkonsum zu pflegen.

Ich erhielt als etwa Zehnjähriger von meinen Grosseltern jeweils einige Spritzer Rotwein ins Glas mit Zuckerwasser. Sehen Sie da bereits eine Gefahr?
Nein, das ist für mich ein typischer Probierkonsum. Es braucht ein Herantasten an Alkoholprodukte. Bei Nikotinprodukten sehe ich es klar anders, weil sie rascher abhängig machen. Es gibt nur wenige, die zum Beispiel monatlich nur eine Zigarette rauchen.

Machten Sie als Jugendlicher auch Grenzerfahrungen?
Ja, ich war schon im Alter von etwa 14 Jahren einmal betrunken und fand es noch ganz lustig, einmal keine Kontrolle mehr zu haben. Danach fand ich es aber nicht mehr so cool und ich beschloss, kontrolliert und nicht täglich zu konsumieren, um die Kontrolle beizubehalten. So genehmige ich mir heute ab und zu ein Bier. Auch habe ich schon zwischen 13- bis 16-jährig regelmässig geraucht, selbst Stumpen, bis mir übel wurde. Das hat mir dann die Augen geöffnet und ich habe sofort aufgehört damit. Heute teste ich berufshalber hie und da neuere Nikotinprodukte, um sie zu kennen, inhaliere sie aber nicht.

Peter Widmer

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