Slide Vg 5339

«Einen weiteren Lockdown halte ich für praktisch ausgeschlossen»

Die Kritik an Pierre Alain Schnegg war und ist teilweise heftig. Nun spricht der Berner Gesundheitsdirektor Klartext zu Corona und verrät, ob er sich zu wenig wertgeschätzt fühlt.

Seit dem Wochenende gelten in der Schweiz weitreichende Corona Lockerungen. Das dürfte ganz Ihrer Haltung entsprechen?

Ja, die epidemiologische Lage erlaubt uns das. Mehr als die Hälfte der Menschen hat mindestens eine Impfung erhalten. Es ist Zeit, in eine neue Normalität zurückzukehren. Mit einer gewissen Vorsicht, das ist klar. Wir müssen genau beobachten, wie sich das Ganze entwickelt.

Hätten Sie anders entschieden als die Landesregierung?

Die getroffenen Entscheidungen sind die richtigen. Was mir ein bisschen fehlt, sind die langfristigen Perspektiven. Was passiert, wenn alles gut läuft, was, falls es schlecht läuft? Damit die Bevölkerung weiss, womit sie rechnen muss. Natürlich lässt sich einiges ableiten, man müsste es allerdings wohl noch etwas klarer kommunizieren. Denn sollten die Fallzahlen im Herbst ansteigen, sind erneute umfangreiche Schliessungen unrealistisch.

Einen dritten Lockdown halten Sie für ausgeschlossen?

Auf Französisch sagt man: «Il ne faut jamais dire jamais.» Andererseits halte ich einen weiteren Lockdown für praktisch ausgeschlossen, wenn über fünfzig Prozent der Menschen vollständig geimpft sind. Ausser, wir hätten es mit einer neuen Variante von Covid zu tun.

Apropos: Wie verbreitet ist die indische Delta-Variante im Kanton Bern?

Sie verbreitet sich. In manchen Kantonen macht sie bereits 25 Prozent aller Fälle aus, im Kanton Bern wird das Bild in einigen Wochen ähnlich sein. Wir wissen, dass die Delta Variante deutlich ansteckender ist als die vorherigen Mutationen, deswegen können wir die Bevölkerung nur dazu ermuntern: Lassen Sie sich impfen! Denn wer zwei Dosen vom Vakzin erhalten hat, ist geschützt, die übrigen nicht. Die Impfung ist freiwillig und jeder und jede hat das Recht, sich der Impfung zu verweigern, bloss muss er oder sie für die eigene Entscheidung auch die Verantwortung übernehmen.

Sie haben vor kurzem gesagt, per Ende September sämtliche Corona Einschränkungen im Kanton Bern aufheben zu wollen. Halten Sie trotz der Delta-Variante an diesem Plan fest?

Ja, denn die Impfstoffe schützen vor dieser Variante. Würden aber gefährliche Mutationen auftauchen, müssten wir den Plan selbstverständlich überdenken.

Was würde denn passieren, falls die Zahlen im Oktober oder November wieder steigen?

Dass sie steigen, ist schon jetzt völlig klar, die Saisonalität können wir nicht ignorieren. Das Wichtigste sind für mich indes nicht die Fallzahlen, sondern es ist das Gesundheitssystem. Die Kernfrage ist immer: Können wir alle Patientinnen und Patienten behandeln? Sollten die Spitäler unter Druck geraten, müssten wir reagieren.

Bei den Impfungen gehörte der Kanton Bern zunächst zu den Schlusslichtern, mittlerweile nun zu den Spitzenreitern. Sind Sie mit dem Impftempo insgesamt zufrieden?

Die derzeitigen Resultate zeigen: Unsere Kampagne war die richtige. Wir sahen davon ab, zwischen Weihnachten und Neujahr einfach mal ein paar Leute zu piksen. Wir wollten erst starten, wenn die entsprechende Plattform zur Verfügung steht. Dank dieser Entscheidung konnten wir mit einem soliden System starten und sind beispielsweise momentan in der Lage, alle Zertifikate automatisch zu generieren. Und wir sagten von Anfang an, dass wir keine Termine annullieren wollen. Wir hatten die Zweitdosen immer zu hundert Prozent an Lager. Auch darum haben im Kanton Bern schon rund 58 Prozent der Menschen mindestens eine erste Impfung erhalten.

Bis wann sind denn jetzt alle, die das möchten, im Kanton Bern vollständig geimpft?

Derzeit stehen genügend Termine zur Verfügung. Wer sich heute anmeldet, erhält innert weniger Tage die erste Impfung und bereits in rund vier Wochen die zweite Dosis. Vielleicht gehen manche halt zuerst in die Ferien oder schauen sich lieber die Fussball-EM an, im September hingegen wird der allergrösste Teil der Impfkampagne abgeschlossen sein.

Vergangene Woche fanden unter anderem im Bierhübeli und im Kursaal Corona-Testevents statt. Wie sind sie verlaufen?

Zum grössten Teil sehr gut, obwohl noch nicht alle Rückmeldungen eingetroffen sind. Teilweise stellten die Veranstalter eigene Testzentren zur Verfügung – hie und da konnte damit sogar eine positive Person eruiert werden. Diese Events zeigen: Die Öffnungen sind machbar. Bedauerlich ist höchstens, die Anlässe etwas spät initiiert zu haben.

Sind Sie eigentlich nach wie vor sauer aufs BAG? Sie wollten die Veranstaltungen ohne Maske durchführen, wurden aber vom Bund dann zurückgepfiffen.

Im Gegenteil, ich bin sehr froh (schmunzelt). Denn was hat der Bundesrat am Mittwoch entschieden? Grossanlässe ohne Maske, weitreichende Lockerungen.

Sie sprechen allerdings von Events im Freien, die Testanlässe im Kanton Bern finden hingegen drinnen statt.

Viele finden drinnen statt, einige im Aussenbereich. Doch selbst im Restaurant dürfen nun wieder beliebig viele Leute an einem Tisch zusammensitzen, in Clubs ist die Maskenpflicht vollständig aufgehoben. Vieles von dem, was wir ausprobieren wollten, hat der Bund übernommen. Das freut mich sehr.

Welches Zeugnis würden Sie sich in der Corona-Krise selbst ausstellen?

Der Kanton Bern hatte im Verhältnis zu seiner Bevölkerung stets weniger Fälle als der Rest der Schweiz. In den vergangenen Monaten lagen wir in dieser Rangliste sogar auf dem letzten Platz. Die Spitäler waren nie dermassen am Anschlag, dass sie gewisse Patienten nicht mehr behandeln konnten, wir nahmen teilweise sogar Patienten aus dem Ausland auf. In dem Bereich haben wir einen guten Job gemacht.

Wo weniger?

In einer Krise müssen wir in Zukunft den Mut haben, rascher zu handeln. Mit rasch meine ich Stunden oder Tage. Je früher reagiert wird, desto besser sind die Resultate.

Ich nenne Ihnen drei potenzielle Corona-Hotspots: Beizen, Clubs und Fussballstadien. Sind sie im November 2021 alle offen? (Überlegt)

Die Bevölkerung wird es kaum mehr akzeptieren, die von Ihnen genannten Einrichtungen wie im Frühjahr 2020 oder im Winter 2020/2021 komplett zu schliessen. Unter dem Vorbehalt, dass wir es nicht mit einer völlig neuen Mutante zu tun haben, die gegen Impfungen resistent ist. Was ich mir vorstellen kann: Sollte eine Region plötzlich hohe Fallzahlen aufweisen, dürfen temporär möglicherweise nur noch Getestete, Genesene oder Geimpfte das Restaurant oder das Stadion betreten.

Themawechsel: Sie sind wahrscheinlich jener Regierungsrat, der von den Medien und politischen Parteien am schärfsten kritisiert wird. Wie gehen Sie damit um?

Kritik muss man sich immer anhören. Solange sie sachlich ist, kann ich verstehen, wenn jemand gegen dieses oder jenes ist. Persönliche Kritik hingegen beschäftigt mich kaum. Jene, die kritisieren, müssten sich sowieso fragen, ob sie mit ihren Ideen bessere Resultate erzielt hätten.

Konkret?

Eine Person, die in die Schweiz kommt, physisch und psychisch zu hundert Prozent fit ist, soll nach zehn Jahren immer noch voll und ganz vom Staat abhängig sein dürfen? Das wäre ein reales politisches Fiasko!

Fühlen Sie sich von den Medien zu wenig gehört oder wertgeschätzt?

Diesbezüglich habe ich kein besonderes Gefühl. Es existieren gewisse Trends in der Politik und in den Medien, das ist offensichtlich, doch damit muss man leben können (lacht).

Welcher Entscheid des BAG hat Sie in dieser Krise am meisten verärgert?

Jene, bei denen klar ersichtlich war, dass sie falsch sind und man dennoch daran festgehalten hat. Die Bevölkerung versteht nicht, wieso etwas getan wird, das nichts bringt, bloss weil es in irgendeinem Gesetzestext steht. Das stört mich ausserordentlich.

Acht Monate lang durften keine Partys und Feste gefeiert werden, nun ist das zum Glück endlich wieder möglich. Herr Schnegg, wie sieht für Sie eine perfekte Party aus?

Ganz gewiss eine mit Familie und Freunden. Wenn Sie ein schönes est erleben möchten, kommen Sie am ersten Samstag im Oktober an den Herbstmarkt in Champoz im Berner Jura. Dann werden Sie erleben, wie ich mir eine perfekte Party vorstelle.

Yves Schott

Weitere Beiträge

Weitere Beiträge