Seit 2017 sagen Linda Hunziker und Susanne Schwarz von h+s knigge, wie wir uns im Alltagsleben benehmen und Fettnäpfchen vermeiden können. Spielerisch, mit einem Augenzwinkern und immer respektvoll.
Darf ich als älterer Herr die beiden jüngeren Damen spontan und ungefragt duzen, oder begehe ich damit gleich den ersten Fauxpas? «Ja», entgegnet Susanne Schwarz unmissverständlich. «Das Du muss immer angeboten werden, und zwar Rang vor Alter und vor Geschlecht. Das Alter ist wichtiger als das Geschlecht. Sie dürfen das Du aber gerne anbieten!» Ich bin beruhigt, lasse es dann aber trotzdem bleiben. Susanne Schwarz räumt hingegen ein, dass es sie nicht störe, wenn sie in einem Restaurant von jungem Personal geduzt werde. «Da fühle ich mich selber wieder jung», lacht die 60-Jährige. Die zunehmende Duz-Kultur erzeuge aber mehr Unsicherheiten und Fragen, stellt Linda Hunziker fest. «Nicht wenige Firmen verzichten auch heute noch bewusst darauf, offiziell das Du einzuführen, um die professionelle Distanz zu bewahren», beobachtet sie in der Praxis.
Andere Regeln als früher
Die beiden Berufs- und Laufbahnberaterinnen bieten mit ihrem Zweifrau-Unternehmen h+s knigge GmbH in Bern seit 2017 Kniggekurse für Kinder, Lernende und Erwachsene sowie Teamcoaching und Kaderschulung an. Knigge steht für respekt- und taktvollen Umgang mit Menschen auf Augenhöhe, und zwar ungeachtet des Berufs, der Herkunft, der Religion oder der Hautfarbe. Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge (1752 – 1796) war ein deutscher Schriftsteller und Aufklärer und wurde vor allem bekannt für seine Schrift «Über den Umgang mit Menschen». Ist denn Knigge in der heutigen Zeit, wo alles so unkompliziert ist, überhaupt noch zeitgemäss? Dazu Susanne Schwarz: «Ja, es wird immer Regeln im Umgang mit Menschen geben, aber sie werden laufend angepasst. Heute gelten andere Regeln als noch vor 50 Jahren.» Sie nennt sogleich ein einfaches Beispiel: «Noch vor wenigen Jahren war es undenkbar, dass man in einem Restaurant den Salat mit dem Messer zerteilte. Aber auch Ernährungsgewohnheiten haben sich geändert. Heute werden oft ganze Salatblätter auf dem Teller serviert. Wir können diese Blätter nicht mehr einfach falten, also nehmen wir das Messer zu Hilfe.» Viel wichtiger sei aber der Respekt, dieser bleibe unverändert. Linda Hunziker stellt in den Kursen mit Jugendlichen fest, dass der Name Knigge bei dieser Generation nicht mehr so geläufig sei. Das wolle aber nicht heissen, dass sie weniger respektvoll seien.
Und wie fängt man jetzt einen Small Talk an?
Früher galt es als schicklich, dass Man(n) der Dame in den Mantel hilft, ihr die Tür offenhält, ihr den Fensterplatz überlässt. Ist dies in der heutigen Zeit der fortschreitenden – und längst fälligen – Gleichberechtigung immer noch üblich? Susanne Schwarz verneint. «Das spielt heute überhaupt keine Rolle mehr. Sie dürfen sich auch von der Dame in den Mantel helfen lassen. Es wird von beiden Seiten als nette Geste geschätzt.» Trotzdem sträube sie sich nicht dagegen, wenn ihr ein Mann im Restaurant den besseren Platz anbiete, fügt Linda Hunziker schmunzelnd hinzu. Auch in der Bar oder im Club müsse heute nicht mehr der männliche Part den ersten Schritt tun, um jemanden kennenzulernen. «Das sind eben diese Regeln, die sich im Laufe der Zeit dem gesellschaftlichen Wandel angepasst haben», sagt Linda Hunziker. Themen- und Szenenwechsel: Das Networking-Apéro, das Cüpli in der einen, das Lachs-Canapé in der anderen Hand. Worüber spricht man mit unbekannten Menschen, wie beginnt man den Small Talk? Die rasche Antwort von Susanne Schwarz überrascht: «Nach wie vor als idealer Einstieg bietet sich das Wetter an. Es findet immer statt und betrifft uns alle.» Dann könne man aber bald wechseln, zum Beispiel in Richtung Freizeit und Ferien, worüber meist alle gern etwas zu erzählen wüssten. Aktives Zuhören und das Stellen offener, nicht zu persönlicher Fragen, welche nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden können, seien wichtig und belebten die Unterhaltung.
Für Frauen ein No-Go: offene Schuhe Nicht nur die Kleidermode und Umgangsformen ändern sich, auch die Sprache und die Ausdrucksweise unterliegen einem kontinuierlichen Wandel. Adjektive wie «huere, mega, voll krass, geil» sind im Alltag geradezu inflationär und fast überall zu hören. Gehört nicht auch eine gepflegte Sprache zu Knigge? «Ja, vor allem im Berufsalltag», antwortet Susanne Schwarz bestimmt. «Die eben erwähnten Ausdrücke sind Jugendsprache, die hatten wir auch. Sie ist durchaus in Ordnung und gehört zur Identifikation. Diese Jugendsprache hat aber am Arbeitsplatz nichts verloren und gehört in die Freizeit.» Letztlich bestimmten aber die Vorgesetzten eines Unternehmens, welche Sprache sie tolerieren wollen, ergänzt Linda Hunziker. Es gebe in jedem Unternehmen eine branchenübliche Sprache, welche Teil der Unternehmenskultur sei. «Für die Jugendlichen ist es ein Riesenschritt, von der Schule in die Erwachsenenwelt eines Lehrbetriebs zu wechseln.» Und worauf ist bei der Kleidung zu achten? Die beiden Knigge Trainerinnen unterscheiden klar zwischen Berufsalltag und Freizeit-Look. In vielen Firmen sei ein Dresscode vorgegeben. Bei Frauen im Büro gelte: nicht zu viel Haut zeigen, dezente, nicht ablenkende Muster bei Bluse, Pullover oder Jacke, aber durchaus mit Farbtupfer. Kein Abend-Make-up, nicht zu viel Schmuck. Ein No-Go: offene Schuhe! Dies gelte auch für Männer, die Zehen dürften nicht sichtbar sein. «Wenn es der Dresscode des Unternehmens aber erlaubt, in Shorts zur Arbeit zu kommen, ist das natürlich okay», sagen beide unisono. Auch die Krawatte habe durchaus noch ihre Berechtigung beim Dresscode, wenn auch hier unübersehbar bis auf die Teppich-Etage in den letzten drei Jahren ein Wandel stattgefunden habe. In den letzten Jahren trägt Mann das Hemd oft über der Hose. Wie verhält es sich damit? Dazu die beiden Expertinnen: «Bei einem Vorstellungsgespräch raten wird dazu, das Hemd in der Hose verschwinden zu lassen. Das ist sicher nie falsch. Sonst entsteht der Eindruck von Lässigkeit, vielleicht sogar Gleichgültigkeit. Also Faustregel: im Berufsalltag drunter, in der Freizeit drüber!» Gewiss, es hänge natürlich von der Branche und vom Betrieb ab, räumen beide ein. Der Schreibende unterzieht sich am Schluss des lebhaften Gesprächs ebenfalls eines minutiösen «Kleider-Tests» der beiden Fachfrauen und besteht kritiklos! Ermutigt und beflügelt verlässt er den Firmensitz an der Optingenstrasse.
Peter Widmer