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Freiheitliche Werte unter Druck – auch in Bern

Seit 20 Jahren dürfen Frauen straffrei abtreiben, seit dem 1. Juli sind homosexuelle Ehen erlaubt. Trotzdem gerieten viele liberale Fortschritte auch hier in Bedrängnis, sagen die beiden Politiker Claudine Esseiva und Claude Meier.

Der Supreme Court in den USA schafft das grundsätzliche Recht auf Abtreibungen ab, SVP-nahe Kreise ritzen an der Fristenregelung. Stehen die Zeichen aus feministischer Sicht gerade auf Sturm?
Claudine Esseiva: Für die Selbstbestimmung der Frau wie auch für das Recht von Homosexuellen, heiraten zu dürfen, haben wir als Gesellschaft jahrelang gekämpft. Eine klare Mehrheit der Schweizer Bevölkerung unterstützt diese Errungenschaften, doch sie sind, wie sich jetzt wieder zeigt, nicht selbstverständlich. Wir müssen jeden Tag darum kämpfen, dass unsere Kinder in einer liberalen, freien Welt aufwachsen können.
Claude Meier: In Bern steigt die Zahl von Hate Crimes in den letzten Jahren an. Was ich bis heute nicht verstehe, ist, wieso der Kanton Hate Crimes statistisch nicht erfassen will. Der Regierungsrat lehnt die Datenerfassung ab mit dem Verweis, man warte auf den Entscheid des Bundes. Angriffe gegen Menschen aufgrund der Hautfarbe, des Geschlechts oder der Religion sind unter keinen Umständen zu tolerieren. Zum Glück will der Grosse Rat nun immerhin sogenannte Konversionstherapien endlich verbieten.

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür, dass solche Straftaten zunehmen?
Esseiva: Unsere Gesellschaft ist diverser geworden, was sie für manche zur Zielscheibe macht. Zudem denken nicht alle Personengruppen so fortschrittlich wie wir. Es ist enorm wichtig, bereits den Kindern beizubringen, dass «schwule Sau» kein harmloses Schimpfwort ist, sondern ein No-Go.

Frau Esseiva, was sagen eigentlich Ihre Kolleginnen und Kollegen von der SVP zu den Initiativen, die die Fristenregelung einschränken wollen?
Esseiva: Unterschiedliche Meinungen sind ein Abbild unserer Gesellschaft. Jeder soll für seine Werte einstehen und Unterschriften für eine Initiative sammeln dürfen. Ich sitze im Grossrat gleich neben der EDU: Ich habe andere Wertvorstellungen als ihre Mitglieder, trotzdem respektieren und schätzen wir uns. Konservative Kreise müssen die Ehe für alle nicht für gut befinden, sie sollen bloss den demokratischen Entscheid akzeptieren.

Herr Meier, Sie sind Direktor des Arbeitgeberverbands Hotellerie-Suisse. Wie setzen Sie dort das Thema Diversität um?
Meier: Unsere Branche ist überdurchschnittlich weiblich, jung, die Zahl und umfasst etliche Menschen mit Migrationshintergrund. Ich sehe die Vielfalt als Chance und Stärke. Es gibt Tausende von Studien, die belegen, dass gemischte Teams erfolgreicher und innovativer sind. Als Arbeitgebervertreter engagiere ich mich, die Hotellerie diese Vorteile noch deutlich besser zu nutzen.

Inwiefern?
Meier: Indem wir diese Vielfältigkeit und Weltoffenheit betonen und sagen: Frauen wie Männer können bei uns Karriere machen. Auch Queers, Personen mit Migrationshintergrund, Quereinsteigerinnen, Ältere und Jüngere, egal welcher Religion oder Handicaps, sind als Gäste oder Mitarbeitende willkommen.

Zu Ihren Gästen zählen auch Reisende aus Saudi-Arabien, die Frauen in die Burka zwingen.
Meier: Zunächst mal sind wir froh, wenn uns nach der Pandemie wieder Leute besuchen. Seien das Gäste aus dem arabischen Raum – leider noch wenige aus asiatischen Regionen – oder aus Nordamerika.

Sie stellen Ihre eigenen moralischen Ansprüche hinten an – Hauptsache, die Hotels sind voll?
Esseiva: Ich finde Zwangsverhüllungen schlimm, und habe extrem Mühe damit, eine Frau in einer Burka zu sehen. Doch eine solche Toleranz braucht es im Gastgewerbe eben gerade. Probleme gibt es dann, wenn es zu Belästigungen kommt oder der Gast nicht akzeptiert, dass er von einer Frau bedient wird. Dort sind die Betriebe in der Pflicht.
Meier: Wir sind offen für alle, unabhängig von Religion, Alter, Herkunft und geschlechtlicher Orientierung. Rückmeldungen über unflätiges Verhalten gegenüber dem Personal erhalten wir im Übrigen selten.

2023 findet in Bern eine Pride statt, zudem werden die EuroGames ausgetragen.
Meier: Das sind extrem wichtige Anlässe, um sichtbar zu machen, dass es in der Stadt und im Kanton diverse Menschen gibt, die queer sind. Dass Menschen aus einem fremden Kulturkreis hierher geflüchtet sind, weil ihr Lebensstil in ihrer Heimat verboten ist. Und um zu zeigen: Schwul, lesbisch oder trans sein ist etwas ganz anderes als eine Federboa zu tragen. (lacht)

Sind unsere freiheitlichen Werte generell bedroht?
Meier: Homosexualität war im alten Griechenland deutlich akzeptierter als im Mittelalter. Das zeigt: Nichts ist einfach fix. Andere, konträre Moralvorstellungen wird es in einer Gesellschaft immer geben – die Frage ist allerdings, wer die Deutungshoheit innehat. Mir ist wichtig zu betonen, dass Toleranz nicht per se ein linkes Thema ist, sondern eine bürgerlich-liberale Überzeugung.
Esseiva: Diese zwei Bewegungen zeigen uns, dass man für gesellschaftliche Veränderungen stets alle Mitmenschen mitnehmen muss, konservativ wie progressiv Denkende. Neue Ideen lösen oft Ängste und Abwehrreaktionen aus. Was es von uns braucht? Offenheit, Respekt und Toleranz gegenüber Andersdenken. Das wünsche ich mir bei den konservativen Kreisen wie auch bei den Woke-Exponentinnen und -Exponenten. Toleranz ist nie einseitig.

Yves Schott

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