Das Virus hat grosse Teile der Wirtschaft in die Knie gezwungen und mit ihr viele Menschen in die Bredouille gebracht. Claudia Hänzi ist Leiterin des Stadtberner Sozialamtes und berichtet.
Wie steht es um das soziale Gefüge der Stadt Bern?
Da kann man keine abschliessende Aussage treffen. Corona hat viel am sozialen Gefüge der Stadt Bern verändert. Uns ist beispielsweise eine Bevölkerungsschicht aufgefallen, die man vor Corona nicht wahrgenommen hat. Es handelt sich dabei um Personen wie Sans-Papiers, Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus, Sexarbeiterinnen und so weiter. Diese Menschen sind von der Pandemie eindeutig mehr betroffen und leiden unter Armut. Weiter haben wir festgestellt, dass Corona die soziale Schere mehr geöffnet hat. Der Abstand zwischen Gewinnern und Verlierern ist weiter geworden. Dennoch bietet die Pandemie gesellschaftliche Chancen. Soziale Sicherheit und Solidarität haben für viele einen neuen Stellenwert bekommen; wir dürften auch anders auf die Natur und ihre Kräfte blicken. Gespannt bin ich zudem darauf, wie sich unsere Arbeitswelt verändern wird.
Wie sieht für Sie eine sozial-gerechte Stadt aus?
Eine sozial-gerechte Stadt ist eine Stadt, in der alle Menschen in ihrer individuellen Ausprägung Platz haben, respektiert werden und sich gegenseitig Chancen eröffnen.
Wo steht Bern da?
Die Stadt Bern ist gut aufgestellt, um dieses Ziel zu erreichen. Man ist sich hier der nötigen Schritte und Herausforderungen bewusst.
Direkte Frage: Gibt es in Bern zu viele Sozialhilfebezüger?
Nein. Es ist bekannt, dass in städtischen Zentren mehr Menschen leben, die Sozialhilfe benötigen als auf dem Land. Wenn Sie mich aber persönlich fragen: ich wünsche mir generell, dass weniger Menschen von Armut betroffen wären, egal wo sie leben.
Ist eine Stadt ohne Sozialhilfebezüger überhaupt möglich?
Ja, wenn es uns gelingt, ein Umverteilungssystem zu realisieren, das die Sozialhilfe überflüssig macht. Der Weg dahin ist aber steinig und sehr lang.
Was bedeutet für Sie konkret Sozialhilfe und was macht für Sie einen guten Sozialdienst aus?
Sozialhilfe soll ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen, Betroffene befähigen und Chancen eröffnen. In einem guten Sozialdienst kennt man die Ursachen von Armut, weiss um deren Entwicklung und handelt deshalb vorausschauend. Der Sozialdienst soll für die Menschen eine Stelle sein, die sie positiv und kompetent erleben. Ein guter Sozialdienst hilft denen, die Hilfe brauchen und erkennt diejenigen, die es nicht ehrlich meinen. Die Mitarbeitenden eines guten Sozialdienstes sind gut ausgebildet, handeln professionell und ihnen werden die nötigen Mittel und Strukturen verschafft, damit sie gute Arbeit leisten können.
Was würden Sie am System der Berner Sozialhilfe ändern, wenn Sie könnten?
Ich wünsche mir, dass im Kanton Bern, die von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe empfohlenen Unterstützungsansätze gelten würden. Die Ansätze sind seit langem tiefer als in anderen Kantonen.
Wie steht es um missbräuchlich bezogene Sozialhilfe und was können Sie dagegen tun?
Wir machen das, was möglich ist. Wir haben ein sorgfältiges und intaktes System. Wir begleiten unsere Kundinnen und Kunden und stehen im engen Austausch mit ihnen. Da merkt man schnell, ob jemand Unfug treibt. Aber wir verdächtigen niemanden pauschal.
Im vergangenen Jahr wurden 4677 Dossiers im Sozialamt geführt. Ist das eigentlich viel?
Wir haben einen leichten Zuwachs, aber der ist im Rahmen der Erwartungen. Wir hätten eine gleiche oder ähnliche Entwicklung ohne Corona. Was nach der Pandemie kommen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Was machen Sie, wenn es nach Corona mehr Fälle gibt?
Wie sehr die Sozialhilfe zunehmen wird, hängt vor allem davon ab, wie rasch sich die Wirtschaft erholen wird. Wir gehen aktuell davon aus, dass wir rund 500 Dossiers mehr eröffnen müssen. In welcher Frist dies geschieht, wissen wir noch nicht. Der Zuwachs kommt, wenn vorgelagerte Leistungen wie Kurzarbeit, Erwerbsersatz, Arbeitslosenversicherung oder die besonderen Corona-Hilfen nicht mehr wirken. Ab diesem Zeitpunkt brauchen die Sozialämter mehr Personal. Wenn jedoch alle in der Schweiz rekrutieren, wird das in einem ersten Moment schwierig. Deshalb entwickeln wir aktuell auch ein Modell, mit welchem wir die Fälle vorübergehend priorisieren und die Ressourcen entsprechend zuteilen können. Das ist aber kein System, dass dauerhaft funktioniert.
Greifen wir ein Vorurteil auf: Ausländer sind öfter auf Sozialhilfe angewiesen als Schweizer. Stimmt das?
Mit Ja oder Nein kann man das nicht beantworten. In absoluten Zahlen sind Schweizer leicht häufiger vertreten, als Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Beachtet man aber gleichzeitig den Anteil der Ausländerinnen und Ausländer an der Gesamtbevölkerung, dann sind sie häufiger auf Sozialhilfe angewiesen als Schweizerinnen und Schweizer. Die Gründe dafür sind klar: Ausländer und Ausländerinnen arbeiten häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen, sind öfters schlechter ausgebildet, verfügen über weniger finanzielle Reserven und haben ein kleineres Netzwerk.
Was sind Ihre grössten Herausforderungen während Ihrer täglichen Arbeit?
Die Pandemie fordert gerade sehr. Davon abgesehen verstehe ich es als grosse Herausforderung, dass ein Betrieb nicht stehen bleibt, sondern sich stetig erneuert und zeitgemäss verändert. Im besten Fall sogar Trends setzt und Instrumente entwickelt, von denen auch andere profitieren. Dafür braucht es Innovation, Veränderungsbereitschaft und mutige Strategien. Damit das gelingt, müssen alle Mitarbeitenden mitziehen. Das fordert Führungspersonen, verlangt von ihnen Ausdauer, Achtsamkeit, eine wertschätzende Haltung und sorgfältige Kommunikation.
Sie sehen täglich Armut und menschliche Schicksale. Wie gehen Sie damit um, nimmt Sie das mit oder sind Sie da emotional distanziert?
Ich sehe schon einiges, stehe aber in meiner Funktion nicht so oft im direkten Austausch mit den betroffenen Personen. Das ist nicht vergleichbar mit unseren Mitarbeitenden am Empfang oder mit dem, was Sozialarbeitende erleben. Wichtig ist aber generell, wenn man in der sozialen Sicherheit tätig ist, dass man die nötigen Instrumente hat, um gut mit emotionalen Belastungen umzugehen und gesund zu bleiben. Gefühlsarmut und emotionale Kälte sind aber fehl am Platz; es geht vielmehr um professionelle Distanz.
Sie stehen als weibliche Führungsperson an der Spitze einer der wichtigsten städtischen Institutionen. Gibt es da manchmal Probleme, sich in der männerdominierten Verwaltung Gehör zu verschaffen?
In den Kreisen, in denen ich mich bewege, habe ich weniger Probleme. Die Stadt Bern pflegt zudem einen sehr bewussten Umgang mit Genderthemen. Dennoch ist Luft nach oben. Ich treffe immer wieder auf Strukturen, die es Frauen schwerer machen, erfolgreich zu sein oder ihnen Chancen verbauen. Das müssen weibliche Führungspersonen verändern und da sehe ich mich in der Pflicht.
Funktioniert seit Beginn der Pandemie die berufliche Integration anders?
Sie ist schwieriger geworden. Wir vermitteln in der Sozialhilfe vor allem in Segmenten, die jetzt von Corona betroffen sind. Momentan besteht da viel Zurückhaltung seitens der Arbeitgeber, wieder jemanden anzustellen.
Gibt es durch die Corona-Pandemie mehr Obdachlose?
Leicht mehr. Aber seit einigen Monaten ist die Zahl stabil geblieben.
Finden Sie den «Pandemie-Wahnsinn» übertrieben?
Ich habe höchsten Respekt vor all den Leuten, die aktuell zu unserem Schutz versuchen, gute Entscheide zu treffen und bin dankbar, dies nicht tun zu müssen.
Sie sagten, als Sie in Bern Ihre neue Rolle angetreten haben, dass Sie etwas bewirken wollen. Ist Ihnen das bisher gelungen?
Ich habe das Glück, in einer Funktion angekommen zu sein, in der ich jeden Tag für die Bevölkerung der Stadt Bern da sein und eine gute Dienstleistung erbringen kann.
Dennis Rhiel