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Heikle Momente gibt es schon – aber nicht wegen der Haie

Es gab Zeiten, da lebte Ornella Weideli quasi aus dem Koffer. Bei ihren Haiforschungen hat die Bernerin viel erlebt, geriet auch in kritische Situationen. Den Mythos vom bösen, weissen Hai findet sie jedoch ermüdend.

So romantisch kann das also sein: Oberhalb eines Korallenriffs gehen Mantarochen auf Planktonjagd, das Maul weit offen. Kein einziges Boot, keine frivolen, sich selbst beweihräuchernden Instagram-Junkies mit Selfiestick. Nur das intensive Orange der untergehenden Sonne auf den Seychellen und ein leichtes Wellenrauschen. Momente für die Ewigkeit. «Unbezahlbar. Natur pur», sagt Ornella Weideli, Biologin und Haiforscherin. Die Szenerie in diesem jetzigen Augenblick ist eine komplett andere. Wir sitzen mit der Bernerin in der Lounge des Hotels Schweizerhof. Interviewtermin. Der Himmel draussen ist grau, bald wird es dunkel. Temperaturen um den Gefrierpunkt. Warm ums Herz wird einem in diesen Gefilden nur mässig. Für jemanden, für den Erfrischung monatelang das 30 Grad warme Meer bedeutete, muss es sich eher wie eine Qual anfühlen. Ornella Weideli, heute 35, ist bereits als kleines Mädchen von Tieren fasziniert. «Vor allem Delfine, Wale und tropische Fischarten hatten es mir angetan.» Ihre Lieblinge hält sie auf Zeichnungen fest. Als Weideli älter wird, steht für sie fest: Sie will Meeresbiologin werden. Oder Betreiberin einer Strandbar. Und so studiert sie zunächst Biologie an der Universität Bern und arbeitet acht Jahre lang als Servicekraft im Aarbergerhof. Kein Beach-Feeling, aber immerhin mal Gastroszene. Doch die Sache mit den Meeresbewohnern lässt Weideli nicht los. Was tun? Sie hat Glück: Nach dem Bachelor-Studium erhält sie ein Praktikum auf den Bahamas bei der Bimini Biological Field Station BBFS, die weltweit berühmteste Haiforschungsstation. Dort, im Alter von 22 Jahren, sieht Weideli zum ersten Mal einen Hai. «Von da an war es um mich geschehen.» Für ihre Masterarbeit blieb die junge Frau aus Worb vorerst an der BBFS, woraufhin es sie für ihre Doktorarbeit auf die Seychellen und nach Französisch-Polynesien zog. Fünf Jahre lang, von 2015 bis 2019, lebt sie praktisch aus dem Koffer. «Wenn ich zurück in die Schweiz kam, holte ich im Keller meiner Eltern neue Kleider und reiste gleich wieder ab. Denn hier eine Wohnung zu mieten, hätte schlicht keinen Sinn gemacht.» Ein regelmässiges Einkommen hat sie kaum – ihre wissenschaftlichen Fortschritte sind dafür riesig, die persönlichen Eindrücke gewaltig.

Die Sehnsucht nach Moskitos
Trotzdem relativiert die sympathische Frau mit der angenehmen Stimme: Alles sei dann schon nicht paradiesisch. «Die Baby-Haie, über welche ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, kommen in sehr seichtem Wasser vor. Um sie zu fangen, mussten wir oft bei sehr hohen Temperaturen stundenlang in kniehohem Wasser laufen und auch sehr geduldig sein, bis ein Baby-Hai ins Netz schwamm.» 2020 schliesst Ornella Weideli ihre Doktorarbeit ab. Sie wohnt jetzt in Zürich, zusammen mit ihrem Freund, einem Piloten. Wegen der Pandemie entscheidet sich Ornella Weideli dazu, vorerst in der Umgebung zu arbeiten. Seit eineinhalb Jahren arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin Teilzeit in der Forschungsabteilung eines Medizinischen Labors in Vaduz in Liechtenstein. Das Thema: Corona. Wenn Weideli nicht mit der Covid-Studie beschäftigt ist, arbeitet sie an ihren zahlreichen Haiforschungsprojekten. Nur ihre Lieblinge selbst – die sind weit weg. Blutrote Sonnenuntergänge und Palmenrauschen ebenso. «Die Haie fehlen mir, extrem sogar», seufzt Weideli mit leicht gequältem Lächeln. «Freunde, Familie, Meer und Forschung – alles zusammen gibt es einfach nicht. Und in diese Situation habe ich mich ja selbst gebracht.» Natürlich: Wissenschaftliches Arbeiten im angenehm komfortablen Büro mit zwei grossen Monitoren fällt deutlich leichter als bei feucht-tropischen 32 Grad und nach Blut lechzenden Moskitos. Und doch vermisst Ornella Weideli genau solche Momente. Draussen, in der freien, unzähmbaren Natur. So wie damals, als sie zusammen mit einer internationalen Filmcrew vor der Kokos-Insel, 36 Boots-Stunden von der Küste Costa Ricas entfernt, auf Tauchgang ging. «Es herrschte eine enorm starke Strömung. Sogar die Boje wurde so stark unter Wasser gezogen, dass sie kaum mehr zu sehen war. Meine Kollegen hatten Mühe, sich am Tauchseil festzuhalten, mir riss es fast die Taucherbrille weg.» Ja, damals, gibt die Worberin offen zu, sei ihr etwas mulmig geworden.

Fische isst sie nie fast nie
Das Meer ist gefährlich, selbstverständlich. Auch Boote und Motorschrauben sorgen für den einen oder anderen heiklen Moment. Die Haie hingegen? Weniger. «Das Schlimmste, das mir je passierte, war, dass mich ein Baby-Hai in den Finger biss und es etwas blutete. Allerdings trug ich nicht einmal eine Narbe davon», lacht Weideli. Den Mythos vom bösen, Menschen attackierenden weissen Hai findet die Biologin ermüdend. «Weltweit existieren über 500 Haiarten – der weisse Hai ist bloss eine von ihnen. Die meisten Haiarten sind nicht grösser als einen Meter und haben dementsprechend kleine Mäuler. Da hat ein einziger Film eine ganze Gruppe von Tieren in Verruf gebracht.» Selbst hat Weideli noch keinen weissen Hai direkt zu Gesicht bekommen. «Sie sind sehr schüchtern. Wer einen weissen Hai sieht, sieht ihn meist aus reinem Zufall – oder er wird angefüttert.» In Tat und Wahrheit muss man sich im Gegenteil um den Hai grosse Sorgen machen. Rund ein Drittel der Haie und Rochen sind mittlerweile vom Aussterben bedroht. Die masslose Fischerei setzt den Tieren zu. «Sie bleiben als Beifang in den Netzen hängen. Am schlimmsten steht es um jene Haie und Rochen in Küstengewässern, die sich in Fischernetzen verheddern.» Der Sägefisch, eine Rochenart, gehört zu den bedrohtesten Fischarten überhaupt. Fisch, Meeresfrüchte generell, isst Ornella Weideli deshalb praktisch nie. Ausnahmen macht sie nur sehr selten. «Beispielsweise auf den Seychellen, wenn ich den Fischer persönlich kenne und weiss, mit welcher Technik er wo und welchen Fisch fängt.» Weideli schüttelt traurig den Kopf. «Mir bricht es das Herz, wenn im Supermarkt die Sushi-Aktionen wieder einmal zuvorderst platziert sind.» Auf eigene Faust, das weiss Weideli, kann sie kaum etwas gegen die traurigen Tatsachen unternehmen. Stattdessen betreibt sie neben ihrer Forschung Aufklärungsarbeit: hält Vorträge, leitet Tauch-Expeditionen, nimmt Podcasts auf – und gibt Interviews. «Vielleicht überlegen sich die Leute dann doch zweimal, was sie essen.» Auf den Seychellen hat die Regierung mittlerweile einige maritime Gebiete zu geschützten Zonen erklärt. «Immerhin», sagt Ornella Weideli.

Trend in die falsche Richtung
Viele Länder würden mittlerweile zumindest so etwas wie eine Art Gespür für die gefährdeten Meeresbewohner entwickeln, führt sie weiter aus. «Tendenziell zeigt der Trend allerdings in die falsche Richtung. Wir zerstören schneller, als dass wir schützen können.» Ornella Weideli sorgt sich verständlicherweise um die Fische, um ihre Haie. Umso mehr, weil sie sie schon seit längerem nicht mehr live beobachten konnte. «Ich arbeite zurzeit an einem neuen Forschungsprojekt mit Walhaien, einer Haiart, die höchst gefährdet ist.» Solch eine Tierart zu erforschen und zu deren Schutz im Indischen Ozean beizutragen, das wäre Weidelis Ziel. Ihr inniger Wunsch. Dann könnte sie sie endlich wiedersehen. Das warme Wasser um sich. Vielleicht sogar ein paar lästige Mücken, wen kümmerts. Hauptsache bei den Haien. Blutroter Sonnenuntergang. Etwas kitschig, einverstanden. Aber oft eben auch grandiose Realität.

Yves Schot
Foto: 
Michael Scholl | Save Our Seas Foundation

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