Slide Rossfeld 8573

Hier ist Inklusion kein Fremdwort

Seit Ende Dezember 2021 leitet Giovanna Battagliero im Rossfeld einen Mehrspartenbetrieb mit über 280 Mitarbeitenden. Sie erzählt von der Faszination ihrer vielschichtigen Arbeit.

Sie sind seit acht Monaten im Amt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich kam in einen sehr gut funktionierenden Betrieb mit aussergewöhnlich motivierten Mitarbeitenden und tollen Klientinnen und Klienten, das ist etwas vom Schönsten hier. Die Menschen arbeiten hier, weil ihnen das Rossfeld und seine Menschen am Herzen liegen.

Warum betreuen Sie keine Klientinnen und Klienten mit psychischer Beeinträchtigung?
Hierfür gibt es andere, spezialisierte Institutionen. Unsere Geschäftsleitung hat sich in letzter Zeit auch über die Positionierung unserer Zielgruppen unterhalten. Wir haben bei uns Klientinnen und Klienten mit körperlichen, motorischen und Wahrnehmungs-Beeinträchtigungen. Aber die Beeinträchtigungen entwickeln sich und sind oft nicht klar trennbar. Wir fördern vermehrt die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit, unabhängig der Beeinträchtigung.

Gibt es eine obere Altersgrenze, um Ihre Dienstleistungen zu beanspruchen?
Unsere ältesten Bewohnenden sind über 70-jährig. Sie bleiben bei uns so lange, wie wir den Pflegeaufwand noch gewährleisten können. Neueintritte nach Erreichen des Rentenalters verbieten leider die kantonalen Vorgaben.

Diese Menschen arbeiten nicht mehr?
Wir haben im Jahr 2021 das System von Werkstätten, wo Umsatz generiert werden musste, zu sogenannten Tagesstätten gewechselt. Heute bieten wir eine fördernde Tagesstruktur, wo wir teilweise Aufträge entgegennehmen wie Callcenter, Zustellbewirtschaftung des Bärnerbär, Briefversände. Hier sind alle gemäss ihren Fähigkeiten tätig. Aber Aufträge, die beispielsweise unter Zeitdruck ausgeführt werden müssten, können wir nicht mehr annehmen, weil unsere Klientinnen und Klienten mehr Zeit brauchen. Auch unser Atelier gehört zu dieser Tagesstruktur. Neu dazugekommen ist Bewegung und Sport – wir nennen das Projekt «Ventil» –, wo die Menschen unabhängig von ihrer Beeinträchtigung zu Bewegung kommen und sich spielerisch weiterentwickeln können.

Wo haben Sie am meisten Zustrom? In der Schulbildung, der Berufsbildung?
Seit 2022 sind wir als «besondere Volksschule» ein Teil der Volksschule. Der Kanton macht die Zuweisungen. Zurzeit haben wir an unserer Schule kein Wachstum, begleiten aber immer mehr Kinder ambulant in die Regelklassen. Bei den Berufslehren sind die Zugänge eher abnehmend. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass wir uns im Laufe der letzten Jahre auf Jugendliche spezialisiert haben, die an schwereren körperlichen Beeinträchtigungen leiden.

Sie bilden keine Lernenden in gewerblichen Berufen aus, sondern Büroassistentinnen/-assistenten EBA und Kaufleute EFZ. Warum?
Das ist historisch so gewachsen. Für unsere Klientinnen und Klienten ist eine kaufmännische Grundbildung ein gutes berufliches Fundament. Denkbar für mich wären in Partnerschaft mit anderen Betrieben allenfalls andere Berufsfelder, die in Richtung Informatik gehen, wie beispielsweise Mediamatik. Für gewerbliche Berufe bräuchten wir eine entsprechende Infrastruktur und spezialisiertes Personal.

Seit drei Jahren gehen Lernende in die Regelklassen der Berufsfachschule WKS KV Bildung. Ihre Erfahrungen?
Ein toller Schritt im Sinne von Integration und Inklusion! Wir machen sehr gute Erfahrungen damit. Unsere Mitarbeitenden begleiten die Lernenden entsprechend, damit sich die Lehrpersonen an der WKS KV Bildung auf den Unterrichtsstoff konzentrieren können.

Wie entwickelt sich die Nachfrage nach Teilinternat und Externat/Tagesschule?
Wir haben keine eigentliche Tagesschule, sondern wir sprechen von Ganztagesbetreuung einschliesslich Mittagessen. Wir bieten ein Teilinternat an, wo die Kinder maximal vier Nächte pro Woche bei uns bleiben können, nicht aber an Wochenenden und während der Schulferien. Die Situation ist zurzeit stabil. Es übernachten von insgesamt 58 Kindern zwölf bei uns.

Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ein wichtiger Meilenstein ist die bevorstehende Einweihung unseres Restaurants am 10. September. Das Restaurant ist öffentlich. Wir öffnen uns bewusst, indem wir beispielsweise Räume für Team-Events oder Geburtstagsfeiern vermieten. Auch die Vernetzung in unserem Quartier ist mir ein grosses Anliegen. Weiter planen wir unter dem Aspekt «Bewegung und Sport» einen Circuit im Haus. Dieser Indoor-Circuit wird verschiedene Posten haben, die die Bewohnenden und Mitarbeitenden absolvieren können. Später wird es eine Outdoor-Variante geben. Dann haben wir eine Arbeitsgruppe «E-Sports und Gaming» gegründet, zusammengesetzt aus Oberstufenschülern mit Lehrpersonen, Berufsschülerinnen, Bewohnenden und Mitarbeitenden. Auch möchten wir ein Rollstuhl-Karussell anschaffen, das auf unserem Gelände für alle zugänglich wäre. Für alle Projekte sind wir aber auf Spenden angewiesen.

Was ist derzeit die grösste Herausforderung?
Der Personalmangel in der Pflege und Therapie. Im Erwachsenenbereich ist es die künftige Subjektfinanzierung im Kanton Bern. Nicht mehr die Institution wird finanziert, sondern das Geld fliesst direkt zu den Menschen mit Beeinträchtigung. Übergeordnet betrachtet ist das sehr sinnvoll. Durch diesen Systemwechsel werden die wirklichen Bedürfnisse der Menschen mit Beeinträchtigung besser erfasst. Mit einer Umfrage wollen wir die Wünsche und Bedürfnisse unserer Klientinnen und Klienten noch besser kennenlernen.

Peter Widmer

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