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«Ich spürte meinen Körper nicht mehr»

Sie weiss, wovon sie spricht: Während der coronabedingten Isolation vor zwei Jahren litt die 33-jährige Berner Psychologin Asha-Naima Ferrante Qualen wegen Einsamkeit. Nun hilft sie selbst jungen Menschen – gerade in der für viele schwierigen Adventszeit.

Wie verhält sich ein Mensch, der längere Zeit unter Einsamkeit gelitten hat? Melancholisch, betrübt, in sich gekehrt, schweigsam? Meine Neugierde ist gross. Zum Gespräch in einem Café im Länggassquartier begegnet mir eine junge Frau. Gesprächig, offen, fröhlich, mit gewinnender Ausstrahlung. Trügt der Schein? Das Gespräch wird es zeigen.

Wo liegt denn überhaupt der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit? Die Antwort der Psychologin lässt nicht lange auf sich warten: «Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, meist entsteht dabei ein Leidensdruck. Im Gegensatz zur Einsamkeit wird das Alleinsein oft freiwillig gewählt. Jemand, der allein im Restaurant sitzt, leidet nicht zwingend unter Einsamkeit. Zwischendurch fühlen wir uns alle mal einsam.» Solange die Einsamkeit nicht zum Dauerzustand werde, sei die Situation nicht alarmierend. Asha-Naima reagiert aber skeptisch, wenn jemand behauptet, das Gefühl der Einsamkeit nicht zu kennen.

Einsamkeit nimmt zu
Noch nie wurde so viel kommuniziert wie heute. Wir sind alle vernetzt, das Smartphone gibt man nur noch während des Schlafens – ungern – aus der Hand. Man bewegt sich auf sämtlichen sozialen Kanälen. Und doch hat die Einsamkeit, besonders jüngerer Menschen, in den letzten Jahren zugenommen. Laut einem Bericht zur letzten schweizerischen Gesundheitsbefragung 2020 fühlt sich fast jede zweite Person unter 40 Jahren manchmal oder oft einsam, Tendenz steigend.

Was läuft hier falsch? Asha-Naima Ferrante: «Viele fühlen sich durch die vielen Möglichkeiten überfordert. Wir stehen unter dem Druck der Dauerkommunikation und Dauerverfügbarkeit. Ja nichts verpassen! Wir haben beinahe verlernt, uns direkt von Mensch zu Mensch zu unterhalten, ohne Medium dazwischen.»

Die Pandemie mit Isolationszeit, Lockdown und Homeoffice habe der Einsamkeit zusätzlichen Schub gegeben und das Thema vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ferrante ist überzeugt, dass die Einsamkeit mit kaum mehr wegzudenkendem Homeoffice noch weiter zunehmen wird. «Viele Menschen brauchen die Strukturen eines Teams.» In der Gesellschaft werde Einsamkeit grösstenteils tabuisiert, Einsame würden stigmatisiert, nicht ernst genommen. Einsamkeit sei keine Krankheit, könne jedoch Krankheiten auslösen, wenn sie länger dauere.

Schon als Kind einsam
Asha-Naima Ferrante litt schon als achtjähriges Mädchen unter Einsamkeit, stellt sie rückblickend fest, nur nahm sie diese damals noch nicht als solche wahr. Sie blätterte kürzlich in ihren alten Tagebüchern und stiess dabei mehrmals auf das Adjektiv «einsam». «Die Trennung meiner Eltern machte mir zu schaffen.» So richtig bewusst wurde ihr die Einsamkeit während der zehntägigen Corona-Isolation im November 2020. Sie erinnert sich nur ungern an diese Zeit. «Ich bin ein Bewegungsmensch, der täglich nach draussen geht. Es war für mich eine völlig abstruse Situation. Ich fühlte mich von meinem Körper losgelöst, spürte ihn nicht mehr.»

Aber statt sich zu bemitleiden, nahm sie das Heft selbst in die Hand und begann, sich intensiv mit Einsamkeit auseinanderzusetzen; startete mit ihrer Infoplattform soli-be.ch (solitude =
Alleinsein), gründete eine Selbsthilfegruppe für junge Erwachsene, «die es bisher noch nicht gab und mich überraschte». Die Medien wurden auf die junge Bernerin aufmerksam – und damit begann sie mit der Öffentlichkeitsarbeit.

«Wir müssen selber aktiv werden»
Auf der Internetplattform ist ein Fragebogen aufgeschaltet, womit Asha-Naima Ferrante unter anderem die Ursachen der Einsamkeit erforscht. Sie zählt auf: keine Bezugsperson, traumatisierende Erfahrungen, kein Dazugehörigkeitsgefühl, soziale Medien, Ausgrenzung, Stigmatisierung, Diskriminierung, Armut, fehlendes Selbstwertgefühl, Trennung, Tod des/der Partners/Partnerin. «Es gibt nicht die typische Ursache, das Problem ist vielschichtig», folgert Asha-Naima aus den Äusserungen der 20- bis 50-jährigen einsamen Frauen und Männer.

Gibt es in der Adventszeit mehr Einsame? Die junge Psychologin ist überzeugt davon. «Diese Zeit steht für Verbundenheit und Zusammenhalt, nicht zuletzt ausgelöst durch die Weihnachtsdekorationen in Städten und Läden. Wir können kaum ausweichen, stecken mittendrin. Die Festtage sind mit Erinnerungen verbunden, es bestehen Erwartungen.» Die 33-Jährige empfiehlt, Gefühle zuzulassen und kreativ zu nutzen, indem man schreibt, malt, Musik hört oder Mitmenschen eine Freude bereitet, auf Leute zugeht, von denen man weiss, dass sie an Weihnachten allein sind. «Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass sich die anderen bei uns melden, wir müssen selber aktiv werden.»

Spätestens wenn der Leidensdruck zu gross wird, rät Asha-Naima Ferrante zu professioneller Hilfe. «Besser wäre natürlich, früher zu intervenieren. Aber es ist ein Teufelskreis, man zieht sich zurück, fühlt sich dadurch einsam, bekommt immer mehr Schamgefühl und stigmatisiert sich selber. Es ist schwierig, da wieder rauszukommen.» In der Psychotherapie sollte die Einsamkeit schon bei der ersten Sitzung thematisiert werden, sagt sie dezidiert.

Im November moderierte Asha-­Naima zusammen mit einer Erwachsenenbildnerin die ersten Einführungskurse «Wege aus der Einsamkeit». «In einem der Seminare sagte eine Teilnehmerin: ‹Nach der Einsamkeit kommt die Sonne.› Das hat mich mega berührt!», freut sie sich. Die nächsten Kurse sind im Februar 2023 geplant.

Fazit des spannenden Gesprächs: Der Schein der Fröhlichkeit trügt nicht. Asha-Naima Ferrante hat einen Weg mit der Einsamkeit gefunden, fühlt sich nur noch hie und da einsam – wie wir alle.

Peter Widmer

Asha-Naima Ferrante, geboren 1989, ist in Bern aufgewachsen und besitzt einen Master in Psychologie FSP. Zurzeit arbeitet sie am Doktorat in Psychologie. Ihre Dissertation schreibt sie zum Thema «Einfluss von Kommunikationsformen bei Schmerzen». Seit 2021 betreibt sie die Website soli-be.ch, welche sich an einsame junge Menschen richtet. Asha-Naima Ferrante ist ledig und wohnt in Bern.

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