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In der verborgenen Unterwelt von Berns Brücken

Wohl ungezählte Male queren wir die Brücken der Stadt Bern, einfach so. Zu Fuss, mit dem Velo, Auto, Tram oder Bus. Aber was verbirgt sich darin oder darunter? Ipek Sattler vom Tiefbauamt der Stadt Bern führt uns unter die Oberfläche von Lorraine- und Kirchenfeldbrücke.

Am südlichen Brückenkopf, Ecke Hodlerstrasse, begrüssen uns zwei Randständige der nahen DrogenAnlaufstelle freundlich. Sie haben es sich auf der Treppe, die zum Untergrund der Lorrainebrücke führt, gemütlich gemacht. Ipek Sattler, Projektleiterin Erhaltungsmanagement und Verantwortliche für Kunstbauten beim Tiefbauamt der Stadt Bern, öffnet die unscheinbare Stahltüre, die den Blick ins Innere freigibt. Im langen, etwa zwei Meter breiten und gleich hohen, hell beleuchteten Tunnel kann der Besucher bequem aufrecht gehen. Es dringt kaum Lärm in den Untergrund. Erstaunlich eigentlich, brettern doch täglich etwa 17000 Fahrzeuge über die Betonbrücke. Werkleitungen und Kabelstränge zieren die eine Wand des Korridors. Die andere Wand ist mit insgesamt 245 Hohlräumen durchlöchert. «Dort fanden auch schon Konzerte statt», erzählt Ipek Sattler. «Mit der Beleuchtung und der hervorragenden Akustik eine super Stimmung», begeistert sie sich. Zurzeit bietet das Tiefbauamt wegen der Pandemie allerdings keine Führungen an.

Vorbereitet für eine Sprengung
In der Mitte der Brücke weist Ipek Sattler auf ein Rohr in einem der Hohlräume hin: «An diesem Scheitelpunkt lagerte die Armee während des Zweiten Weltkriegs Sprengstoff, um die Brücke je nach Bedrohungslage sprengen zu können.» Diese Tatsache erinnert an den Befehl Hitlers, sämtliche historischen Bauwerke und Brücken von Paris zu sprengen, als die Alliierten 1944 auf die Stadt vorrückten, um sie zu befreien. Es ist dem damaligen besonnenen deutschen Stadtkommandanten zu verdanken, dass Frankreichs Metropole noch so besteht, wie wir sie kennen, weil er den wahnwitzigen Befehl nicht ausführte. Ende der 1940er-Jahre kam es wegen eines Pfeilerbruchs zu einem zwanzig Meter langen und sieben Meter breiten Einbruch des Trottoirs und der Strasse. Auslöser waren Bauarbeiten an einem neuen Gewächshaus im Botanischen Garten, das sich direkt unterhalb der Lorrainebrücke befindet. Die Pfeilerfundamente wurden aufgrund von Aushubarbeiten nahezu unterhöhlt. Seit 2016 ist die Lorrainebrücke Teil der Velohauptroute vom Bahnhof bis ins Wankdorf. Im April dieses Jahres wurde der Velostreifen stadtauswärts auf der gesamten Brückenlänge auf drei Meter verbreitert, dafür musste eine Autospur geopfert werden. Der Ausgang am Ende des Tunnels führt durch eine schmale Aussentreppe zum kleinen Parkplatz bei der gewerblich-industriellen Berufsschule am Nordring. Wir bevorzugen den gleichen unterirdischen und trockenen Rückweg, denn es regnet in Strömen!

Brücke im übertragenen Sinn
Ipek Sattler vergleicht ihre spannende Tätigkeit mit dem Arztberuf: «Wir stellen eine Diagnose, ziehen Schlüsse daraus und behandeln die Schwachstellen.» Sie ist verantwortlich für den Unterhalt sogenannter Kunstbauten der Stadt: Kornhausbrücke, Monbijoubrücke, Lorrainebrücke, alle Aare-Stege, Treppen, Stützmauern. «Eine Brücke hat eine Lebensdauer von 80 bis 100 Jahren, durch fachgerechte Erhaltungsstrategien kann die Lebensdauer gesamthaft, wirtschaftlich, und nachhaltig verlängert werden», klärt uns die Bauingenieurin auf. «Wir richten uns nach den Überwachungsrichtlinien des Bundesamts für Strassen ASTRA, wonach die Brücken alle fünf Jahre einer Hauptinspektion unterzogen werden müssen. Bei Bedarf gibt es noch Sonder- und Zwischeninspektionen.» Nicht immer sei eine Gesamtsanierung nötig, während der durchschnittlichen Lebensdauer würden permanent Unterhaltsarbeiten ausgeführt. Eine Brücke bedeutet für Ipek Sattler nicht bloss ein technisches Bauwerk, das zwei Ufer miteinander verbindet. «Die Verbindung besteht für mich auch im übertragenen Sinn, die Brücke lässt Menschen zusammenkommen.» Ipek Sattlers Augen leuchten, wenn sie von der Kirchenfeldbrücke schwärmt. «Ihre Eleganz und filigrane Beschaffenheit faszinieren mich, seit ich Bern erstmals besucht habe!»

Schwindelfrei und keine Höhenangst
Unser zweiter Besuch gilt der Kirchenfeldbrücke, welche seit 1883 das gleichnamige Quartier mit der Innenstadt verbindet. Die Stadt entwickelte sich damals einseitig gegen Westen. Bern brauchte aber Brücken, um die Aareschlaufe zu überwinden und das alte Stadtzentrum mit dem bislang unbebauten Kirchenfeld zu verbinden. Nicht weniger als 1300 Tonnen Stahl und schätzungsweise 250000 Nieten verbauten die Arbeiter während der knapp zweijährigen Erstellungszeit. Der Eingang zur Brücke befindet sich beim Brückenkopf, Seite Casino. Wir fassen eine Sicherheitsausrüstung mit Helm und sind während der Begehung angeseilt, schliesslich befinden wir uns 37 Meter über dem Boden auf einem Servicesteg, auf gleicher Höhe des Fangnetzes. Unter uns fliesst die Aare, über unseren Köpfen dröhnt das Tram. Es empfiehlt sich, frei von Schwindel und Höhenangst zu sein. Nach der Fertigstellung 1883 schwankte die Brücke seitwärts, wenn Menschen im Gleichschritt gingen. Galoppierten gar Pferde darüber, hüpfte sie leicht. Die Bevölkerung zeigte sich damals sehr skeptisch gegenüber dem Stahlwerk, das Ende des 19. Jahrhunderts allerdings dem Zeitgeist entsprach. In Paris wurde sechs Jahre später der Eiffelturm eingeweiht… Ab 1901 verband das erste Berner Tram die Stadt mit dem noblen Villenquartier. Das brachte die Brücke buchstäblich wieder ins Schwingen. Als ein zweites Gleis gebaut werden sollte, wurden die Hauptträger deshalb 1913/14 vorsichtshalber mit Stahlbeton ummantelt. Die Kirchenfeldbrücke war leider für zahlreiche Menschen immer wieder Ausgangspunkt für einen Sprung in die Tiefe, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. 2009 beschloss die Stadt, die Geländer provisorisch mit einem drei Meter hohen Drahtgitterzaun zu sichern. Der Zaun wurde 2015 durch Fangnetze – wie bei der Münsterplattform – ersetzt. Die Brücke war auch für den Vater des Schreibenden Objekt einer Mutprobe: Er prahlte stets damit, in den frühen 1940er-Jahren als Jugendlicher zusammen mit anderen Wagemutigen nächtens das Stahlgerüst der Brücke erklommen zu haben. Dokumentiert ist die waghalsige, nicht nachahmenswerte Aktion allerdings nicht… Berühmtheit erlangte die Kirchenfeldbrücke unter anderem 2013, als der Roman «Nachtzug nach Lissabon» von Pascal Mercier verfilmt wurde. Der Film beginnt mit einem verhinderten Suizid auf der Brücke. 2018 wurde die Kirchenfeldbrücke totalsaniert. Man setzte Betonpfeiler instand, die Brücke wurde verstärkt und erdbebensicher gemacht. Die Kosten für die Sanierung beliefen sich auf 17,6 Millionen Franken. Nach zwanzig Minuten auf dem sichtdurchlässigen Servicesteg betreten wir wieder den vertrauten, sicheren Boden unterhalb des Casinos. Fazit des Besuches: ein nicht alltägliches Erlebnis; nachahmenswert, sobald wieder Führungen stattfinden können!

Peter Widmer

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Die kennen wir natürlich – oder etwa doch nicht? Die Lorraine- …

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…  und die Kirchenfeldbrücke.

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