Thomas Kessler gehört zu den renommiertesten Schweizer Jugendexperten. Er sagt: Vor Secondos muss niemand Angst haben. Und er kritisiert, dass junge Umweltschützer zu viel Aufmerksamkeit erhalten.
Vor rund zwei Wochen hört sich der Bärnerbär bei Berns Jugendlichen um: Welche Sorgen treiben sie um, wie sehen sie ihre Zukunft? (s. Ausgabe vom 1. Juni). Was auffällt: Laut und teilweise aggressiv sind vor allem jene, die augenscheinlich einen Migrationshintergrund aufweisen. Zufall? Und wie steht es eigentlich um die viel zitierten und von den Medien hochgejubelten jungen Klimaschützer*innen? Sind das dieselben, die im Marzili unter der Monbijoubrücke an heissen Tagen eine veritable Abfallschlacht inszenieren? Fragen, die nicht immer angenehm sind, aber dringend gestellt werden müssen.
Thomas Kessler, wie ticken Berns Jugendliche ganz generell?
Im Vergleich zu anderen Städten sind die jungen Menschen hier sehr entspannt und zeigen eine fast schon auffällige Vernunft. Natürlich gibt es die üblichen Ausreisser, die sich häufig in Verbindung mit der Reitschule manifestieren. Das Spezielle daran ist allerdings der Ort selbst und nicht etwa die Leute, die dort verkehren.
Wie meinen Sie das?
Die Reitschule ist politisch so gewollt, «In St. Gallen wurde der Konflikt aktiv gesucht», sagt Thomas Kessler (Symbolbild). Fotos: KEYSTONE, Martin Ruetschi/zvg und zwar von den Erwachsenen. Sie stellt einen Experimentierraum mit etlichen Freiheiten dar; ein klarer Gegenpol zur beschaulichen Stadt, wo viele in der Verwaltung arbeiten und einen hohen Lebensstandard führen.
Wie viel soll Jugendlichen überhaupt erlaubt sein?
Entscheidend ist, wer die Regeln aufstellt. Je mehr Verantwortung Eltern und Verwandte übernehmen, umso weniger Restriktionen werden benötigt. Schiebt man die Verpflichtungen an Schulen oder Behörden weiter, erlassen diese Sanktionen, die Jugendliche nicht im Geringsten beeindrucken und die auch aus pädagogischer Sicht kaum sinnvoll sind, beispielsweise die Androhung von Sozialarbeit. Gehen junge Menschen zu weit, sollten wir Erwachsene direkt intervenieren. Erst wenn die Situation aus dem Ruder zu laufen droht, kann Hilfe von aussen geholt werden.
Wie hat Corona die 16- bis 25-Jährigen verändert?
Der erste Lockdown im Frühling 2020 kann für sie als positiv gewertet werden. Derart massive Einschränkungen in das gesellschaftliche Leben haben unsere Grosseltern vielleicht im Krieg noch miterlebt, für die Generation Z war es das erste Mal. Zweifellos eine Erfahrung, die ihnen im späteren Leben hilft: Im Leben existieren höhere Mächte.
Und der zweite Lockdown?
Hier war der Verzicht überdurchschnittlich, vor allem, weil die Jugendlichen auch im politischen Diskurs zu kurz kamen. Insofern hatten die Ausschreitungen von St. Gallen doch etwas Konstruktives: Nur ihretwegen wurde dann plötzlich über die Sorgen und Ängste der jüngeren Generation diskutiert. Ich persönlich wies früh darauf hin, sie miteinzubeziehen. Andere Länder haben das vorbildlich gemacht und veranstalteten – wissenschaftlich begleitet – Konzerte für die Jugend, in Finnland werden sogar Corona-Spürhunde eingesetzt. Solche Experimente hat man hier sträflich versäumt.
Im letzten September besetzte die Klimajugend den Bundesplatz. Wo findet diese in Bern statt? Schaut man sich den Ghüder abends auf der Grossen Schanze oder nach einem heissen Tag im Marzili bei den Volleyballfeldern an, scheint nur wenig ökologisches Bewusstsein vorhanden zu sein.
Diese Beobachtungen entsprechen den Erfahrungen in anderen Städten. In Umfragen zu Umweltthemen, wie jetzt gerade vor der Abstimmung zum CO2 -Gesetz, zeigt sich diese Altersgruppe ökologischen Massnahmen gegenüber eher skeptisch. Das Bild, das die Medien stets bewirtschaften, entspricht selten der Realität. Denken Sie an den gigantischen Materialverschleiss an Konzerten oder Open-Airs, Stichwort: liegengelassene Zelte. Das ist die Realität: Wohlstand und Konsum. Die wirklich engagierten Umweltschützer findet man bei der Generation Ü60.
Moment: Was ist mit der Fridaysfor-Future-Bewegung oder der extremen Extinction Rebellion?
Es kommt immer darauf an, wer mit «Jugend» gemeint ist. Etliche junge Menschen setzen sich fürs Klima ein, das ist richtig – und ihr Engagement soll entsprechend gewürdigt werden, schliesslich haben sie ihre gesamte Zukunft noch vor sich. Zu einer objektiven Berichterstattung gehört aber ebenso zu sagen, dass diese Jugendlichen innerhalb ihrer Altersgruppe einer Minderheit angehören. Wir haben es hier zum allergrössten Teil mit Aktivisten zu tun, die einer Wohlstandssituation mit akademischem Elternteil entstammen. An den Berufsschulen oder bei Secondos werden andere Dinge diskutiert.
Im Buch «Future for Fridays» kritisiert Clemens Traub, ein junger Deutscher und selbst SPD-Mitglied, die Überheblichkeit der Ökobewegung und dass sie sich um Anliegen von Andersdenkenden foutiert.
Sehen Sie: In Sachsen-Anhalt haben vorletztes Wochenende bloss knapp sechs Prozent die Grünen gewählt. Das heisst nicht, dass die Bevölkerung in dieser Region weniger grün ist. In Sachsen-Anhalt stehen viermal mehr Windräder als im offiziell grünen Baden-Württemberg. Dort sind Windräder vielen, die sich sonst angeblich fürs Klima einsetzen, ein Dorn im Auge. Leute auf dem Land sind genauso ökologisch, nur halt weniger ideologisch eingestellt. Der Schreinerlehrling im Berner Oberland wünscht sich konkrete Antworten: Wo und wie wird der Strom produziert? Statt: Ist der Kapitalismus schuld an der Trockenheit?
Viele empfinden junge Erwachsene mit Migrationshintergrund als lauter und aggressiver. Muss man vor Secondos Angst haben?
Überhaupt nicht. Wir sollten versuchen, die Jugend in ihrer ganzen Breite zu verstehen: Dass die Osterkrawalle gerade in St. Gallen vonstattengingen, ist kein Zufall. In der Ostschweiz ist der Anteil an Mechanikern und Plättlilegerinnen deutlich höher, die Umgangsformen in nicht-urbanen Gebieten unterscheiden sich klar von jenen wie etwa in Bern. Es geht um schöne Autos, das Zusammensein in Gruppen oder Imponier Möglichkeiten. Das bedeutet keine Drohung an Aussenstehende, sondern ist schlicht ihr Lebensstil. In St. Gallen wurde der Konflikt aktiv gesucht, weil er sich zuvor keinen Raum verschaffen konnte. Das den Secondos zuzuschreiben, wäre aber falsch. Es handelte sich um einzelne junge Männer, die bloss ein Stichwort brauchten, um loszulegen, das hätten geradeso gut auch Schweizer sein können.
Wie viele Jugendliche sind wegen der Pandemie frustriert oder neigen gar zu Gewaltausbrüchen?
Da der Impfstoff nun bald für Personen ab 12 Jahren freigegeben ist, wird sich die Situation schnell entspannen. Denn der Impfpass bedeutet gleichzeitig Eintrittsticket für öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte und Partys. In Zusammenhang mit Jugendlichen und Aggression wird man bald wieder über alterstypische Faktoren sprechen: Schule, Eltern und Beziehungen.
Und damit dürfte die Jugend aus dem Interessenfokus verschwinden.
Das ist leider zu befürchten, da die Medien auf kernige Schlagzeilen fokussieren. Auswüchse wie Saufgelage sind unter Jugendlichen aber Minderheitenthemen. Sie machen sich Gedanken zu ihrer beruflichen Zukunft, Einkommen oder Familienplanung. Umfragen zeigen: Partys und das Klima sind ihnen wichtig, rangieren allerdings längst nicht auf den ersten Plätzen. Die typische Jugend lebt in der Agglomeration, diese müssten die Medien deutlich stärker in den Fokus rücken, doch gerade Journalisten sind häufig selbst Akademiker.
Die Öffentlichkeit setzt einen falschen Fokus?
Bei Gleichstellungsdebatten wird stets über gleiche Löhne von Lehrerinnen oder Ärzten diskutiert. Schreiner oder Metzgerinnen finden selten statt. Doch junge Erwachsene haben es verdient, in ihrer ganzen Breite betrachtet zu werden.
Welches Zeugnis stellen sie der Berner Jugend insgesamt aus?
Ein sehr gutes. Das Engagement in KMU-Betrieben oder von Secondos, die mit Disziplin etwas erreichen möchten, ist mindestens so gut wie jenes, das von den Medien stets bejubelt wird. Die oft erwähnte Verwöhntheitsproblematik ist ein Problem der Erwachsenen, nicht der Jungen: Die globale Wettbewerbssituation wird stressiger und je länger, je mehr in Ostasien definiert. Wir machen den Jugendlichen einen grossen Gefallen, wenn wir sie zu guten Leistungen statt zum Chillen animieren. Damit sie dereinst in Wohlstand statt nur in Wohlstandsblasen leben können.
Yves Schott