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«Krise ist ein interessanter Begriff»

Für viele gerät die Welt gerade aus den Fugen. Doch wie geht eine Gesellschaft damit um? Claus Beisbart, Wissenschaftsphilosoph an der Uni Bern, sagt: Unsichere Zeiten haben auch Vorteile.

Ukraine-Krieg, Energiekrise, Teuerung. Verstehen Sie, dass viele Menschen derzeit nicht gerade himmelhoch jauchzend durch die Gegend tanzen?
Absolut. Krisen waren für uns lange ein Fremdwort – und nun sind sie da. Corona hat uns direkt und unmittelbar betroffen. Das ist beim Ukraine-Krieg zwar anders, trotzdem gehen uns die Bilder sehr nahe. Wenn die Leute gefragt werden, wie es ihnen geht, sagen die meisten: persönlich gut, aber … und dann werden die Krisen aufgezählt.

Darf man denn momentan überhaupt glücklich sein?
Sicher. Ich verstehe es jedoch ebenso, wenn manche von sich aus sagen, dass sie die aktuelle Weltlage mitnimmt. Noch vor einigen Monaten hätten wir diese Unterscheidung wohl kaum gemacht. Krise ist im Übrigen ein interessanter Begriff.

Inwiefern?
Krise bedeutet: Eine Sache spitzt sich zu, es kommt zu einer Entscheidungssituation. Anders verhält es sich mit langfristigen Entwicklungen wie dem Klimawandel.

Nämlich?
Wir wollen ja die Zukunft mitgestalten, deswegen interessiert uns stets die Vorhersage. Bloss ist eine solche wahnsinnig schwierig zu treffen. In den Sozialwissenschaften kennt man den Effekt der widerlegten Vorhersagen, weil Menschen auf diese reagieren und in diesem Sinne keine träge Masse sind. Der Philosoph Karl Popper meinte einst, dass es keine Gesetze gibt, die eine exakte Vorhersage erlauben, wenn es um die Geschichte der Menschen geht – im Gegensatz zur Astronomie zum Beispiel. Trends kann man eher vorhersagen.

Welche Trends erkennen Sie neben dem Klimawandel noch?
Zum Beispiel das Artensterben, das vielen von uns im Alltag verborgen bleibt.

Wie intensiv soll sich ein Individuum überhaupt mit globalen Trends beschäftigen? Nur wenige auf dieser Erde geniessen schliesslich den Luxus, über Genderforschung oder Klimawandel zu sinnieren.
Es geht hier nicht bloss um moralische Forderungen. Der Klimawandel etwa zwingt uns konkret dazu, uns anzupassen. Sehen Sie sich unsere Wälder an: Sie haben wegen der Dürreperioden in letzter Zeit enorm gelitten. Und wir wollen ja unsere Wälder auch in Zukunft geniessen.

Die Frage ist: Wie können wir Veränderungen schaffen?
Als Gemeinschaft. Es bringt ja nichts, wenn Sie zuhause Ihren Müll trennen, er dann in der Deponie aber wieder zusammengeschüttet wird. Es gibt zahlreiche Forschungen darüber, wie sich eine Person verändern kann, wenn sie sich beispielsweise eine schlechte Eigenschaft abgewöhnen will. Die Erkenntnis: Wir müssen uns neue Gewohnheiten antrainieren. Am besten klappt es, wenn Krisenerfahrungen durchlebt wurden – oder durch äussere Umstände.

Das heisst?
Wenn ich in ein Quartier umziehe, das lärmiger ist als zuvor, gewöhne ich mich schnell daran, früher aufzustehen. Die Hoffnung wäre jetzt, dass sich auch die Gesellschaft nach einer Krise wie Corona ändert. Leider hat das nur mässig geklappt, wir stecken bereits wieder in alten Mustern.

Haben Krisen auch ihr Gutes?
Durchaus. Während Corona konnten Personen mit Beeinträchtigungen dank Online-Meetings eindeutig besser am täglichen Leben partizipieren als zuvor. Andere wiederum haben die Pandemie als Chance gesehen und sich beruflich neu orientiert. Krisen haben ausserdem die Kraft, eine Gesellschaft zusammenzuschweissen: Wir haben gesehen, wie Pflegekräfte plötzlich mehr Aufmerksamkeit genossen.

Krisen bergen allerdings genauso die Gefahr, die Bevölkerung zu spalten. Das war bei Corona offensichtlich.
Ich finde das Bild vom Riss in der Gesellschaft eigentlich unpassend. Der Philosoph John Stuart Mill sagte einst: Selbst falsche Meinungen haben einen gewissen Wert. Sie führen dazu, eigene Überzeugungen besser zu begründen.

Sie finden Widerspruch also gut?
Auf einer sachlichen Ebene absolut. Wenn eine Gruppe bestimmte Massnahmen für übertrieben hält, ist das in Ordnung. Problematisch wird es erst, wenn wissenschaftliche Resultate mit fadenscheinigen Gründen in Abrede gestellt werden und einander misstraut wird. Übrigens: Philosophie ist oft ebenfalls wahnsinnig kontrovers. Doch wir haben Freude daran, Ansätze auszudiskutieren, um weiterzukommen. Interessanterweise stieg das Vertrauen in die Wissenschaft zu Beginn der Corona-Krise deutlich an. Aber eine kleine Gruppe von Menschen hat ihr Vertrauen in die Wissenschaft tatsächlich verloren und artikuliert sich laut in den sozialen Medien. Allerdings würde ich bei diesen Zahlen nicht von einem Riss durch die Gesellschaft reden.

In der Schweiz werden zwar harte Diskussionen geführt, aber längst nicht so heftig wie etwa in den USA. Woran liegt das?
Der Wohlstand macht sicherlich einen Unterschied aus, hier sind viel weniger Personen abgehängt. Die Basisdemokratie führt ausserdem dazu, dass über Dinge diskutiert wird, die in gewissen Ländern kaum thematisiert werden.

Zurück in die Gegenwart: Was beschäftigt uns 2023?
Der ganz grosse Trend ist die Digitalisierung. Hinzu kommt die Verlagerung ins Metaverse, also in die virtuelle Realität. Eine interessante Entwicklung: Zum einen sinkt unsere Lebensqualität, etwa aufgrund von Dürren, tendenziell. Andererseits stehen einem in der virtuellen Realität immer mehr Möglichkeiten offen: VR-Brille aufsetzen und man fühlt sich wie in den Ferien. Mit dieser VR-Brille wird das noch deutlich realer als vor einem Screen. Freundschaften und berufliche Bekanntschaften lassen sich bequem im Metaverse auskosten.

Wir dürfen uns folglich auf 2023 freuen?
Was mich persönlich zuversichtlich stimmt, ist, dass gerade in letzter Zeit einige meiner Doktorierenden Kinder bekommen haben. Junge Leute, die Vertrauen in die Zukunft haben. Ausserdem erleben wir Philosophen gerade spannende Zeiten, denn Krisen bringen uns zum Nachdenken – und Philosophie ist ja der Versuch zu staunen, das Selbstverständliche zu hinterfragen. Das müssen wir als Gesellschaft jetzt immer häufiger.

Yves Schott

Claus Beisbart, Jahrgang 1970, wurde in Bayreuth (D) geboren. Er forscht vor allem in der Wissenschaftsphilosophie, zum Beispiel zu den Grenzen des Wissens. Beisbart war Visiting Fellow an der University of Pittsburgh und auch in München, Oxford und Konstanz tätig. Seit 2012 ist er Extraordinarius für Wissenschaftsphilosophie an der Uni Bern.

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