Im zweiten Teil unserer Serie «Bärn … ganz schön unbekannt» steigen wir in die Kanalisation hinunter. Der Speicherkanal Länggasse-Aare ist ein übel riechendes, aber wahnsinnig wichtiges Berner Bauwerk.
Engehaldenstrasse 86, nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Auf der einen Seite stehen ein paar schmucke, kleine Mehrfamilienhäuser. Auf der anderen Seite, weiter unten, rauscht die Aare. Neben dem Trottoir ein hüfthoher Metallzaun, der den Hang absichert. Nichts Spektakuläres. Bloss eine Treppe, die flusswärts führt, und eine mit Kiesel bedeckte Fläche deuten darauf hin, dass da wohl noch etwas ist. Wir steigen mit Alain Fallegger und zwei seiner Arbeitskollegen die Stufen hinab. Hinter der Tür: erstmal viel Technik. An der Wand leuchtende Lämpchen, Teil eines hochkomplexen Steuerungssystems. Und ein dumpfes Rauschen. «Wir befinden uns im Herzstück des Speicherkanals Länggasse-Aare», sagt Fallegger, Leiter Unterhalt Netz beim Stadtberner Tiefbauamt. Fallegger, Mitte 40, freundlich und gesprächig, läuft nach einer kurzen Erklärung der wichtigsten Elemente zu einer dicken, mehrfach gesicherten Tür weiter hinten im Raum. Die Vorkehrungen haben ihren Grund, denn direkt dahinter befindet sich der Speicherkanal. Vom Technikraum aus sehen wir aber erst einmal ein schwarzes Nichts. Es ist dunkel, ja, und das Rauschen ist etwas lauter geworden. Vom Schacht steigt miefige Luft in die Nase. Fast einen Kilometer lang ist der Speicherstollen. Hier kommt das Abwasser aus der Länggasse sowie den Quartieren Brückfeld, Muesmatt, Neufeld und Innere Enge zusammen und fliesst, in «normalen» Zeiten, weiter zur ARA, wo es gereinigt und in die Aare weitergeleitet wird. In der Stadt Bern existieren noch neun weitere solche oder ähnliche Speicherbauwerke für die anderen Quartiere.
Die giftige Mixtur
«Hinter der Tür beginnt die Hölle», scherzt Fallegger und lacht. So schlimm ist es dann nicht. Doch bevor wir den Tunnel betreten, erhalten wir Schutzkleidung: Gummistiefel, die weit über die Knie reichen, einen weissen Plastiküberzug, Handschuhe, Helm, Auffanggurt und eine FFP3-Maske sowie den sogenannten Selbstretter «Oxyboks». Fallegger nennt sie «die Überlebensbüchse». Darin befindet sich eine Maske zum Überziehen und ein mit Spezialgranulat gefüllter Behälter. Sie versorgt einen 25 Minuten lang mit Sauerstoff, falls es zu einem Zwischenfall mit Sauerstoffmangel, Gas, Kohlenmonoxid oder Schwefelwasserstoff kommen sollte. Gerade letzterer kann gesundheitlich schwere Folgen nach sich ziehen. Fallegger nimmt ein Messgerät mit, das die entsprechenden Werte permanent misst und im Notfall Alarm schlagen würde. Es kann losgehen. Um in den Schacht zu gelangen, müssen wir zunächst eine Eisentreppe, die in der Wand befestigt ist, herabsteigen. Etwa fünf Meter sind es bis zum Boden. Nicht eben die einfachste Aufgabe: Die Stufen sind nass und glitschig. Je weiter wir hinabsteigen, umso fahler wird das Licht aus dem Technikraum. Die Stirnlampe erhellt nur das Nötigste. Ohne sie würde man hier kaum die Hand vor Augen sehen. Wir sind unten. Endlich. Rechts ist der Stollen mit einem Durchmesser von rund drei Metern begehbar, in der Mitte plätschert die Kloake vor sich hin. Eine braune Suppe, die giftige Mixtur aus WC-Spülung, Waschmaschinenablauf und Speiseresten. Ohne Maske wäre der Gestank unerträglich. Und nicht ganz ungefährlich: Die Bakterien in der Luft können bei manchen Menschen durchaus kleinere Magendarm-Probleme auslösen. Grössere «Objekte» sehen wir kaum. Fauliger Einheitsbrei. «Toilettenpapier werden Sie keines zu Gesicht bekommen. Das ist mittlerweile so produziert, dass es sich nach wenigen Minuten auflöst», sagt Fallegger.
«Dann ist alles bis oben voll»
Wir beginnen unseren Marsch in die Richtung hin, wo der Speicherkanal seinen Anfang nimmt: unterhalb des Ralligplatzes in der Länggasse. Es ist extrem feucht, die Brille von Falleggers Kollege Michael Mitter ist schon nach wenigen Minuten komplett beschlagen. Nach etwa fünf Minuten bleibt er stehen. Er deutet auf ein Objekt an der Stollenwand, etwa auf Höhe seines Kopfes: Reste eines Zahnseidenfadens. «Die haben wir am liebsten», meint er mit leicht ironischem Unterton. Wir notieren: Zahnseide kann schon mal ein Pumpwerk lahmlegen, aber auch Tampons oder Binden gehören definitiv nicht in die Toilette. Gleichzeitig zeigt die Stelle, an der sich die Zahnseide befindet, eindrücklich, wie hoch das Wasser steht, wenn es regnet. «Dann ist hier alles bis oben voll», erklärt Alain Fallegger. Schüttet es wie aus Kübeln, wird der Tunnel innert weniger Minuten zur tödlichen Gefahr. «Befindet sich zu diesem Zeitpunkt eine Person im Stollen, muss sie schnellstens raus.» Sonst droht die Person zu ertrinken. Natürlich, es gibt Emergency Exits doch hier unten möchte man nicht in einem Schutzraum eingeschlossen sein. Die rettende Treppe nach oben ist schmal, der entsprechende Aufgang klaustrophobisch eng und erscheint unendlich lang. Und so führt der Kanal eben nicht nur Fäkalien mit sich, sondern er dient bei schlechtem Wetter auch als Speicherbauwerk für Tausende Kubikmeter Regenwasser. Das in den ersten Minuten anfallende Regenabwasser – der sogenannte «First flush» – soll hier zusammen dem normalen Abwasser zwischengespeichert werden. Der Speicherstollen hat eine Gesamtkapazität von rund 6000 Kubikmetern; ist er voll, muss das weiter anfallende Regenabwasser in die Aare abgeleitet werden. Zu diesem Zweck befindet sich an der Engehaldestrasse 86, am Start unserer Tour, ein gigantisches Entlastungsbauwerk, die sogenannte Tulpe.
Die Gefahr des Domino-Effektes
Bloss: Ist es nicht heikel, wenn Regenwasser, das zuvor durch die Kanalisation geflossen ist, in einen Fluss gelangt? «Keine Angst, dieses Wasser ist stark verdünnt und stellt für Mensch und Tier keine Gefahr dar», beruhigt Fallegger. «Der dreckige Teil ist schwerer, bleibt im Speicherstollen liegen und wird, wenn der Pegel abgesunken ist, der Kläranlage zugeführt. Sowieso müssen wir uns an die Regeln des Gewässerschutzes halten.» Nach knapp 20 Minuten sind wir beim Wirbelfallschacht unterhalb des Ralligplatzes angekommen. Durch ein riesiges Rohr mit einem Durchmesser von 2,40 Metern prasselt Abwasser rund 50 Meter in die Tiefe, maximal 10000 Liter können zu Spitzenzeiten pro Sekunde runterdonnern. Schon jetzt ist der Lärm ohrenbetäubend, man versteht sein eigenes Wort nur ansatzweise. Wie es hier wohl aussieht, wenn es weiter oben zünftig schifft? Wir laufen zurück. Was auffällt: Die Polymerbeton-Sohlschalen, die im Tunnelboden eingefasst sind, wurden teilweise durch Keramikklinker-Platten ersetzt. Fallegger erzählt: «Beim Bau im Jahr 2000 konnte niemand wissen, wie stark der Bergwasserdruck hier unten ist.» Was er meint: Das Grundwasser drückte so stark auf den Stollen, dass sich die ursprünglich eingesetzten Betonschalen nach und nach zu verbiegen begannen. Wären sie nicht zusätzlich verankert oder teilweise ersetzt worden, «hätte ein DominoEffekt eingesetzt und sämtliche Platten rausgerissen». Nach rund einer Stunde sind wir zurück im Technikraum. Mit einem Schlauch spritzen wir die Gummistiefel ab, die völlig verdreckten Handschuhe kommen in einen Kübel. Dann endlich wieder: Tageslicht. Vogelgezwitscher. Und vor allem: frische Luft. Es ist eine besondere Welt da unten. Unfreundlich, modrig, drückend und irgendwie beklemmend. Nein, da geht eigentlich keiner freiwillig rein. Und doch war es ein interessanter Einblick. Eine, die es in Bern neben den herzigen Bären und den schmucken Sandsteinhäusern eben auch braucht. Selbst wenn sie nicht besonders gut riecht und einladend daherkommt. Denn ohne sie hätten wir weiter oben definitiv ein Problem. Eines, das uns sehr schnell stinken würde.
Yves Schott