Im Gasthof Kreuz in Grafenried nimmt sich Adolf Ogi Zeit für den Bärnerbär. Die Pandemie sieht er als Warnsignal und bedauert, dass gerade ältere Menschen darunter leiden.
Was beschäftigt Sie derzeit?
Ich frage mich, wie lange das Thema Corona unser Leben noch negativ begleitet. Ich habe nach wie vor Mühe zu verstehen, wie es in der heutigen Zeit passieren konnte, dass ein Virus aus Wuhan in China innert Tagen die ganze Welt verändert. Besonders für den Tourismus im Berner Oberland wäre ich froh, wenn er wüsste, wann und ob die Wintersaison ohne Einschränkung gestartet werden kann.
Was hat die Pandemie mit Ihnen gemacht? Sie gehören schliesslich zur sogenannten Risikogruppe.
Ich habe mich an das gehalten, was Bundesrat Berset verlangt hat: Bleiben Sie zuhause! Aber ich ging mit meiner Frau fast jeden Tag in den Wald eineinhalb Stunden laufen. Doch gerade ältere Menschen in Alters- und Pfegeheimen erlebten eine schwierige Zeit, weil viele dort während Wochen praktisch eingeschlossen waren. Einerseits musste die Gesundheit geschützt, andererseits die Wirtschaft und die persönliche Freiheit nicht allzu sehr eingeschränkt werden – diese Balance zu fnden, ist sehr heikel. Man darf das Eine nicht gegen das Andere ausspielen.
Angst hatten Sie also nie?
Ich nehme mein Alter an und bin bereit, irgendwann zu gehen. Ich denke aber häufg an jene Menschen, die eingeschränkt sind und Existenzängste haben. Auf längere Sicht gesehen bedeutet das ebenfalls eine grosse Belastung: Solche Ausnahmesituationen schlagen aufs Gemüt und die Psyche.
Ist das Alter bei Ihnen, vom Virus einmal abgesehen, ein Thema?
Ja. Obwohl die Pandemie wichtige Themen, etwa Umwelt oder Löhne, in den Hintergrund drängt. Ich erinnere mich, ich war vielleicht 16 oder 17, wie ich mit meinem Vater auf einem Berg stand und ins Tal hinunterblickte. «Döf», so sagte er mir und so nennt man mich in Kandersteg, «hier oben ist die Welt noch in Ordnung. Wenn wir allerdings so weitermachen, werden wir in den Städten und in den Tälern gelegentlich eine Seuche erleben.» An diese Szene denke ich momentan häufg. Möglicherweise haben wir die Erde zu fest strapaziert.
Die Menschen streben nach mehr – und das immer rasanter. Ganz gemäss dem olympischen Motto «Altius, citius, fortius» – höher, schneller, stärker.
Ich habe den Sport ganz bewusst nicht erwähnt. Doch er war natürlich mitgemeint: Doping, Korruption, Gewaltfragen und Finanzen usw., namentlich bei der Fifa, dem IOC und anderen Verbänden. Hier hätten wir bescheidener sein müssen.
Bescheidenheit! Was sagen Sie dazu?
Als ich Ende der 80er-Jahre Bundesratskandidat war, hiess es, ich sei intellektuell dazu nicht fähig. Das hat mir wehgetan und ich überlegte mir, ob ich für dieses Amt überhaupt kandidieren will. Als die Zeitungen das schrieben, liess mich mein Vater zu sich holen. Er war Skilehrer, Bergführer, vor allem aber Förster. Ein dienender Mensch. Er legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: «Döf, ja, wer Bundesrat werden will, soll intelligent sein. Ich hingegen wünsche dir auch Weisheit. Intelligenz kann man am Gymer oder an der Uni abholen. Die Weisheit jedoch kommt vom Herzen, sie beinhaltet die Lebensethik. Sie ist dann der Kompass, der dich leitet. Mit Bescheidenheit.
Sind Sie heute denn weise?
Mit 65 wollte ich auf den Mont Blanc, mit den Ski. Aber eine innere Stimme sagte zu mir: «Döf, das lässt du jetzt bleiben.» Das war für mich, der in seinem Leben stets «machen» wollte, nicht ganz einfach.
Trotzdem: Wer Ihnen gegenübersitzt, hat kaum das Gefühl, sich mit jemandem zu unterhalten, der 78 ist.
Ich war 13 Jahre lang Bundesrat, 17 Jahre beim Skiverband, absolvierte 1400 Diensttage im Militär, ich war unter anderem Kommandant einer Gebirgsgrenadierkompanie – das sind keine Weicheier. (lacht) Ich wollte dem Land in einer Führungsposition dienen, auch wenn ich wusste, dass ich nicht Chef von Nestlé werden kann. Und ich war bereit, zu scheitern, einen «Chlapf an den Grind» zu erhalten, obschon ich selbstverständlich erfolgreich sein wollte. Zurück zu Ihrer Frage: Ich hatte keinen Werdegang, der meinem Körper sehr zuträglich war. Der Gehörschutz bei den Grenadieren, die Kniebelastung beim Bergsteigen, als Bundesrat stand ich jeden Morgen um 4.45 Uhr auf, um zu joggen, habe also den Schlaf vernachlässigt.
Was bewog Sie Ende 2000 dann dazu, zurückzutreten?
Meine Frau Katrin und mein 2009 verstorbener Sohn Mathias sagten damals zu mir: «Du bist müde, die nächste Stufe ist Krankheit.» Ich fog im August nach Sydney zur Eröffnung der olympischen Spiele. Die australische Sportministerin meinte, sie wünsche sich im Triathlon drei Medaillen. Ich entgegnete: «No, no, one medal!» Die Schweizer wurden schliesslich Erste und Dritte, gewannen Gold und Bronze. Danach rief ich meine Frau an und erklärte ihr: «Drei Frauen und mein Sohn sind schuld daran, dass ich Ende Jahr zurücktrete!» Sie meinte: «Und dafür musstest du bis nach Australien?» Mittlerweile bin ich dankbar, auf dem Höhepunkt abgetreten zu sein.
Was tun Sie heute, um fit zu bleiben?
Ich gehe jeden Morgen eine Stunde laufen. Nicht immer die gleiche Strecke. Ich lebte immer äusserst diszipliniert, gab stets totalen Einsatz. Auch im Bundesrat. Wobei die Sache mit der Neat schon hart war für mich. Ich hatte viermal Nierensteine, stressbedingt. Manchmal konnte ich kaum einschlafen, habe an mir gezweifelt. Otto Stich war gegen den Lötschberg und gegen mich, beim Tavetscher Massiv im Bündnerland hiess es, da komme eine Bohrmaschine nie durch – stellen Sie sich vor: Das ist das Schlimmste, das Ihnen als Bundesrat passieren kann. Ein Albtraum! Das alles war nicht sehr gesundheitsfördernd.
Dennoch geht es Ihnen gut.
Ich habe Knieprobleme und Arthrose. Ich liess beide Schultern operieren sowie den Rücken. Ich tue alles dafür, dass das nicht wieder passiert. Ich bin in der Lage, Ski zu fahren, zu wandern und freue mich an dem, was ich habe. Ich bin realistisch und weiss: Ich kann nicht mehr alles. Die Herausforderungen, die ich bis 65 suchte, brauche ich nicht mehr.
Finden Sie, dass ältere Leute in unserer Gesellschaft den Stellenwert erhalten, den sie verdienen?
Berufich gesehen wurde vor einigen Jahren damit begonnen, Personen zwischen 58 und 65, hart ausgedrückt, auf die Seite zu schieben. Jetzt kam noch Corona dazu. Diese Menschen können ihr bereits reduziertes Dasein nicht mehr leben. Das darf man nicht ignorieren. Vielleicht hätten wir gerade in dieser Zeit deutlicher betonen müssen, dass wir für diese Menschen da sind. Ich persönlich fühle mich nicht abgeschoben. Ich sehe aber, wie gewisse Leute leiden. Ich erhalte noch immer jeden Tag Mails von Personen, die sich Sorgen machen, die existenzielle Ängste verspüren.
Was antworten Sie?
Ich versuche, ihnen Hoffnung zu geben.
Welche Träume haben Sie noch?
Ich bin dem Herrgott dankbar, dieses Leben leben zu dürfen. Ich benötige keine Weltreise mehr, ich muss nicht mehr dringend auf einen Berg. Ich brauche bloss Lebensfreude. Dazu muss ich mich geistig wohlfühlen. Ich lese jeden Tag Zeitungen. Mich interessiert die Aktualität, ohne mich einzumischen. Ich freue mich wie ein kleines Kind auf den Winter, treffe Freunde, ab und zu spiele ich Golf, allerdings bin ich im Rahmen meiner Cooling down period aus der Wettkampfphase schon längst raus. (lacht) Ich erhalte etliche Anfragen für Referate, wobei ich nur die wenigsten annehme. Ins Welschland gehe ich hingegen gerne. Avec mon français fédéral de Kandersteg. (spricht ironisch)
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Heute und morgen möchte ich nicht sterben. Doch ich weiss, dass er kommt. Was ich nicht mehr ertragen könnte: Wenn innerhalb meiner Familie erneut etwas Schlimmes geschehen würde. Was ich noch erwähnen möchte: Hatte ich in meinem Leben in der Politik Schwierigkeiten, fuhr ich ins Gasterntal. Ich sah das Balmhorn, das Doldenhorn und stellte fest: Du bist so ein kleines Mannli, diese Berge waren lange vor deiner Zeit da und werden es lange nach dir immer noch sein. Das relativiert die Bedeutung eines Bundesrats ziemlich und führt zu Demut. Sagen Sie: Wie viele Jahre beträgt die Lebenserwartung bei Schweizer Männern heute?
Etwa 82 Jahre.
Dann bleiben mir ja zwischen fünf und zwanzig Jahre! (lacht und verabschiedet sich vom Tisch) Yves Schott