Bb 160620 Interview Muesluem Web

«Reichtum kann dich erreichen, wenn du dein Geschäft erledigst»

Während des Lockdowns hatte Semih Yavsaner alias Müslüm viel Zeit zum Nachdenken. Im Interview erklärt er, wie er eine göttliche Wandlung erlebte und wie Entschäftigung funktioniert.

Einige Sänger werden wohl einen Corona-Song veröffentlichen. Du auch?
Nein, das wäre zu offensichtlich. Macht man so etwas auf öffentlichen Druck hin, fehlt von Anfang an die Originalität.

Wie hast du diese Krise erlebt?
Für mich war es insofern eine spannende Zeit, als dass die Leute mal erlebt haben, wie sich ein Künstlerleben anfühlt, im Sinne von: Man weiss nie, was gleich passieren wird. Die Menschen waren gezwungen, sich auf die Situation einzulassen. Dieser Prozess generierte Bewusstsein.

Einige traf der Lockdown ziemlich hart, viele Betriebe kämpfen um ihre Existenz.
Was man in die Welt hinausträgt, kann einem niemand wegnehmen. Ist dieses Gefühl verinnerlicht, sollte man ruhig schlafen können. Wer Angst hat, etwas zu verlieren, müsste über sich selbst nachdenken. Ich habe zwei kleine Kinder, werde allerdings immer einen Weg finden, über die Runden zu kommen.

So einfach ist das?
Es bringt doch nichts, einen riesen Haufen Geld zu besitzen und der nebendran sitzt im Elend. Alles fliesst ineinander. Wie sich die Natur nun ganz neu entfalten konnte…ich finde das toll, dass wir das mal so erleben durften. Für viele Dinge hatten wir stets Ausreden parat, nun mussten wir uns wegen des Coronavirus mal mit uns selbst auseinandersetzen.

Das mag sein. Bloss kann alleine von Luft und Liebe keiner leben.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich empfinde viel Mitgefühl für die Leute, die unter den Folgen der Krise leiden. Aber mal zu Ende gedacht: Was wäre, wenn ein KMU immense Summen umsetzt? Das darf doch nicht unser Lösungsansatz sein. Wo hat uns das Geld hingeführt? Es braucht viel mehr Bewusstsein. Das ist der massiv grössere Reichtum als Geld. Schaut jeder nur auf sein Konto, wird das die Welt kaum verändern. Würden wir für immer und ewig leben, liesse sich vielleicht noch darüber diskutieren…aber so?

Du klingst wie ein radikaler Sozialist.
Nein, Kunst kennt keine Kategorie und keine Richtung. Definiere ich mich als Linker oder Rechter, schaufle ich mir mein eigenes Grab. Bin ich links, mache ich andere nicht sensibler für diese Haltung. Es darf nie um Identität oder Reichtum gehen, sondern um die Sache selbst. Wer das tut, steht für eine Selbstverständlichkeit ein. Um Müslüm zu zitieren: «Der Hochuspochus liegt im Fochus.»

Müslüm hat sehr wohl eine Meinung. Ich erinnere an den Erich-Hess-Song.
(Überlegt) Müslüm benennt gewisse Gefühle, er hält allerdings nicht daran fest. Er gibt dem Ganzen bloss einen Namen. Das mag vielleicht ein bisschen abstrakt tönen…

Ein wenig …
Also: Ich probiere, zu meiner Gefühlslage simultan Worte zu finden. Ich bin kein Stratege, sondern gebe mich der Sache hin.

Geht es vielleicht noch ein wenig konkreter?
Man sollte nicht erst kalt duschen, wenn man ein Buch über die Vorzüge des kalten Duschens gelesen hat. Reichtum liegt nicht irgendwo in Hawaii, er kann dich schon nur erreichen, indem du dein Geschäft erledigst. Man muss es einfach zulassen. Ich nenne es entschäftigen.

Das Gegenteil von beschäftigen?
Der Ausdruck hat etwas Befreiendes, oder? Es ist dauernd die Rede davon, Leute zu beschäftigen. Dabei finden sie jedoch kaum zu sich. An meinen Konzerten existieren keine Kategorien: Da steht der Hipster neben dem Banker und in der vordersten Reihe klatscht ein Sechsjähriger. Diese Zuschauerinnen und Zuschauer kommen nicht wegen eines Konsenses, sondern wegen eines Gefühls.

Wann ist ein Auftritt ein guter Auftritt?
Wenn der Verstand abgeschaltet ist und das Süpervitamin aktiviert wird. Wenn sich die Leute vergessen.

Du plädierst dafür, völlig im Moment zu sein?
Ich gebe dir ein vielleicht völlig absurdes Beispiel: Als ich vor Jahren einen «Chlapf an den Gring» erhielt, erlebte ich eine Art göttliche Wandlung. Ich will keine Gewalt verherrlichen, keinesfalls! Doch dieser Chlapf bugsierte mich ins Sein. Vielleicht auf primitive Art und Weise, aber wie sagt Müslüm so schön: «Wichtig ist nicht, was es ist, wichtig ist nur, dass es ist.» Und dieser Chlapf war unumstritten ein Ticket in die Gegenwart. Um dorthin zu gelangen, muss man die Komfortzone verlassen, den Gedankenstrom unterbrechen. Manchmal ist es ein Chlapf ein anderes Mal ein Müntschi, aber es ist. Und jeder Mensch hat seinen eigenen Weg zu seinem Sein. Unsere Gesellschaft spricht ständig nur über gewisse Dinge, das ist mir zu theoretisch. Ich möchte mir nicht ständig überlegen müssen, wie ich jemanden umarmen soll. Ich möchte es einfach tun.

Du bist Ende Mai in der Mühle Hunziken aufgetreten, hast dort ausserdem gekocht, im September startet deine Tour «Müsteriüm – eine dramatürkische Odyssee», die du wegen der Pandemie verschoben hast. Worauf darf sich das Publikum freuen?
Auf das zeitloseste Ereignis aller Zeiten.

Yves Schott

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