Die Corona-Pandemie sollte uns lehren, dankbarer zu sein, sagt Brigitta Rotach, Leiterin Kulturprogramme im Haus der Religionen. Und sie erklärt, wie wir es schaffen, trotz Abstand Nähe zu erzeugen.
Wie haben Sie die Corona-Zeit im Haus der Religionen erlebt?
Das Gebäude ist seit Ende Oktober wieder geschlossen. Ich vermisse vieles, insbesondere die spontanen Begegnungen mit Menschen und die Live- Veranstaltungen. Andererseits haben wir auch einen Digitalisierungsschub hinter uns: Wir versuchen uns mit Zoom-Debatten, experimentieren mit Facebook-Livestreams und posten auf unserem Youtube-Kanal. Wir sind internationaler geworden, erreichen deutlich mehr und wohl auch andere Leute.
Wie haben Sie das Corona-Jahr 2020 persönlich wahrgenommen?
Natürlich nagt die ungewisse Zukunft an mir. Aber grundsätzlich geht es mir sehr gut. Ich bin sicherlich privilegiert, in meinem Umfeld ist zum Glück niemand gestorben. Mir hat es wohlgetan, runterzufahren, im Homeoffice arbeite ich zudem konzentrierter. Und ich bin viel weniger gereist, trotzdem habe ich kaum das Gefühl, mir fehle etwas. Ausserdem habe ich festgestellt, dass ich gerne koche (lacht).
Sie zählen vor allem die Vorteile auf. Zahlreiche Menschen leiden allerdings unter der Gesamtsituation.
Ich scheue mich ein wenig davor, Ratschläge zu erteilen. Mir, meiner Familie und meiner Gemeinde helfen virtuelle Treffen gegen die Vereinsamung. Wenn ich das Gefühl habe, mir falle die Decke auf den Kopf, bewege ich mich. Ich übe regelmässiger Yoga als früher. Gleichgewichtsübungen bringen meinen Geist ins Gleichgewicht und wenn der Atem wieder tief und regelmässig fliesst, kommen auch die Gedanken wieder in Fluss.
Ein grosses Problem ist die Vereinsamung. Gerade, wer kein Internet hat, wird von manchem ausgeschlossen.
Ich praktiziere beispielsweise Distant Walking mit meiner Mutter, sprich: Spazieren mit Abstand. Und auch telefonieren oder Balkongespräche können helfen. Aber ja: Wer nicht online ist, wird teilweise abgehängt, das stimmt. Andererseits kenne ich ältere Personen, 80 oder 90 Jahre alt, die noch vor kurzem überzeugt waren, sich nie via Zoom oder Facebook unterhalten zu wollen und schon gar nicht mit Bild – und jetzt machen sie mit. Klar, man kann sich dabei unmöglich umarmen, die Qualität von Gesprächen hingegen steigt tendenziell, sie werden konzentrierter.
Nähe schaffen und gleichzeitig physisch distanziert bleiben – wie erreichen wir das?
Tatsache ist: Wir sind in einer Krise und es fehlen gewisse Dinge. Interessanterweise können wir uns in bestimmten Bereichen sehr schnell umstellen. Noch vor einem Jahr wäre es für mich unvorstellbar gewesen, niemanden ausser meiner Familie zu berühren oder eine Maske zu tragen.
Geht ein Muslim anders mit der Krise um als eine Jüdin?
Uns ist aufgefallen, dass es Religionsgemeinschaften mit Migrationshintergrund massiv leichter fiel, sich digital ein- respektive um zustellen. Türkische Aleviten oder christliche Äthiopier waren es sich bereits vorher gewohnt, mit Verwandten und Bekannten weltweit über digitale Medien in Kontakt zu bleiben. Wir im Haus der Religionen lernen gerade viel von den Religionsgemeinschaften.
Was sagt die Religion zum Umgang mit Krisen?
Im Mittelalter sah man die Pest als eine Strafe Gottes an. Die Menschen suchten Schuldige, Juden etwa, führten Prozessionen durch und waren überzeugt, das Schlechte so zu vertreiben. Solche theologischen Erklärungen und Verschwörungstheorien sind heute zu Glück selten. Allerdings kommen Grundthemen der Religionen in diesem Krisenjahr wieder deutlicher an die Oberfläche. Etwa das Bewusstsein, nicht über alles verfügen, nicht über Anfang und Ende des Seins bestimmen zu können.
Wie sollten wir dieses Jahr Weihnachten feiern?
Weihnachten ist ein Lichterfest in jener Zeit, in der es draussen am dunkelsten ist. Juden zelebrierten Mitte Dezember Chanukka und zündeten jeden Tag ein Lichtlein mehr an. Auch die Hindus feiern ein Lichterfest in diesen Tagen. Licht bedeutet Hoffnung, es steht aber auch für ein Licht am Ende des Tunnels.
Ist momentan überhaupt die Zeit, um zu geniessen? Es gibt etliche Personen, die dieses Jahr jemanden verloren haben.
Gerade für Menschen, die jemanden Nahen verloren haben, ist es dieses Jahr sicherlich viel schwieriger zu feiern. Für Leute wie mich aber würde ich sagen: erst recht. Dieses Jahr hat mich gelehrt, dankbarer zu sein. Mir war früher nie so bewusst, was es bedeutet, zufällig in der Schweiz geboren zu sein. Die tolle Krankenversorgung, die Kurzarbeit, die uns der Staat ermöglicht. Ich bin sonst eher jemand, der mal jammert, stelle allerdings fest, wie unglaublich privilegiert wir im internationalen Vergleich dastehen.
Wie feiern Sie persönlich Weihnachten und was schenken Sie?
Während Chanukka habe ich meinen Töchtern jeden Abend ein kleines Geschenk überreicht. Mit dem christlichen Teil der Familie wichteln wir.
Was macht Ihnen für 2021 Hoffnung?
Ganz klar der Impfstoff. Ich kenne so viele Leute, die sagen: «Wenn alles wieder normal ist, dann umarmen wir uns wieder, dann feiern wir ein riesiges Fest.» Vielleicht wird uns so auch einmal bewusst, was wir an diesen Freiheiten, die uns vorher so normal erschienen, haben. Einiges ist seit dem Ausbruch des Virus kostbarer geworden.
«Alles wird gut!» Würden Sie diesen Titel unterschreiben?
(Überlegt) Nein, weil ich ja nicht weiss, ob alles gut wird. Alles ist kleinräumiger geworden: Ich habe meine Chanukka-Kerzen an jenem bestimmten Abend angezündet und sehe meine Nichte genau heute. Eventuell ist das schon bald nicht mehr möglich. Die Situation zwingt uns, von Woche zu Woche zu schauen, flexibel zu zu sein. Ob ich nächstes Jahr reisen gehe? Keine Ahnung.
Alles ein wenig kurzfristiger und damit gelassener anzugehen, hat doch gewisse Vorteile.
Absolut. Wer einzig und allein auf die Weltreise im April wartet, riskiert, in den vorhergehenden Monaten gar nicht richtig zu leben. Vielleicht hilft uns diese Krise, ein bisschen mehr im Hier und Jetzt zu leben und den Augenblick wertzuschätzen.
Yves Schott