Nach den Übergriffen am Stadttheater diskutiert Bern über sexuelle Belästigung. Für Opferhilfeberaterin
Barbara Dettwiler ist klar: Auch ein dummer Spruch kann schon zu weit gehen.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie von Vorfällen wie jenen bei Bühnen Bern hören?
Dass es sich hier um einen sehr sensiblen Bereich handelt. In der Kunst, bei Tanz oder Ballett kommt es unweigerlich zu Körperkontakt. Menschen werden zu Höchstleistungen angetrieben oder sie treiben sich selber zu Höchstleistungen an, vieles hat mit Macht und Hierarchie zu tun. Wir haben auch schon betroffene Personen aus solchen Bereichen beraten.
Würden Sie aus Erfahrung sagen, dass es Branchen, in denen körperliche Nähe quasi zum Alltag gehört, Belästigung häufiger an der Tagesordnung ist als an anderen Orten?
Nein, so kann man das nicht generalisieren. Was ich jedoch für wichtig halte: Dort, wo die körperliche Distanz aus beruflichen Gründen kaum eingehalten werden kann, muss umso mehr über dieses Thema geredet werden. Wie gehen wir mit Berührungen um, wo liegen die Grenzen?
Wann merke ich, ob mein Gegenüber eine Grenze überschreitet?
Ob jemand zu weit geht, hängt von der Empfängerin ab, an welche die Aussage gerichtet ist. Solche Situationen gestalten sich enorm individuell. Ob eine Grenzverletzung passiert, entscheiden immer die Personen, gegenüber denen diese ausgesprochen wurde. Ein weiterer Faktor ist auch, wie die beiden Involvierten zueinander stehen. Ist die Beziehung etwa privat oder geschäftlich.
Ein Beispiel: Ist ein «Du siehst heute aber richtig gut aus» noch in Ordnung?
Sexuelle Belästigung passiert dann, wenn die Aussagen einseitig sind, erniedrigend. Wenn sie unerwünscht geäussert werden und das Selbstwertgefühl des Opfers untergraben – und nicht zuletzt, wenn dadurch das Arbeitsklima vergiftet wird. Das unterscheidet sexualisierte Gewalt übrigens von einem Flirt: Dieser beruht stets auf Gegenseitigkeit.
Wie reagieren Sie, wenn das eigene Verhalten verniedlicht wird? Etwa: «Die soll jetzt bloss nicht so empfindlich sein!»
Sexualisierte Gewalt kennt zahlreiche Facetten. Oft handelt es sich um Witze, sexistische Bemerkungen – oder um einen anzüglichen Blick, manchmal ein körperliches Aufdrängen. Wir kommen in dieser Diskussion allerdings nur vorwärts, wenn wir uns gegenseitig austauschen. Verniedlichungen bringen da nichts. Empfindet jemand einen Spruch oder einen Blick als Belästigung, ist das eine Tatsache.
Im Fall von Bühnen Bern wird die beschuldigte Person weiterbeschäftigt. Wie heikel ist es ganz generell, unter Verdacht stehende Angestellte im Betrieb zu behalten?
Aus meiner Sicht sehr heikel. Im Falle einer sexuellen Belästigung ist der Arbeitgeber ist für den Schutz der Arbeitnehmenden verantwortlich, aber natürlich ebenso bei einer ungerechtfertigten Anschuldigung. Bei solchen Vorfällen würde ich empfehlen, wie das die Bühnen Bern auch gemacht haben, den Fall zu untersuchen.
Ist es überhaupt möglich, nach einem sexuellen Übergriff mit der betreffenden Person wieder ein Vertrauensverhältnis aufzubauen?
Ich stelle mir das enorm schwierig vor.
Wie verhalte ich mich, wenn ich sexuell belästigt werde? Konfrontiere ich den Verantwortlichen direkt?
Eine schwierige Frage. Das hängt nicht zuletzt vom Machtverhältnis ab. Arbeiten die zwei involvierten Personen in der gleichen Position und vielleicht hat gerade noch ein Augenzeuge die Situation beobachtet, könnte eine direkte Konfrontation durchaus positive Wirkung haben. Wird hingegen der CEO gegenüber der Praktikantin übergriffig, dürfte es rasch problematisch werden. Tendenziell empfehle ich, den Kontakt mit dem direkten Vorgesetzten oder HR- Person zu suchen und sich an eine Beratungsstelle zu wenden.
Sie kennen also Opfer, die sich an ihrem Arbeitsplatz unwohl fühlen, weil jener, der belästigt hat, nach wie vor im gleichen Betrieb arbeitet?
In grösseren Firmen besteht hie und da die Möglichkeit, die Abteilung zu wechseln. Trotzdem kann es dann zu unangenehmen Begegnungen, etwa im Lift, kommen. Klientinnen, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt haben, sind oft massiv belastet.
Viele warten sehr lange, bis sie den Vorfall melden – falls überhaupt.
Ja, leider. Das hat häufig mit Scham, Schuld und Existenzängsten zu tun.
Was liesse sich dagegen tun?
In Betrieben, in denen Grenzverletzungen offen diskutiert werden, ist es für Betroffene definitiv einfacher, sich zu melden, wenn etwas vorfällt. In seinem jüngsten Bericht über sexuelle Belästigung kommt der Bundesrat übrigens zum Schluss, dass sowohl die Unterstützung von Betroffenen wie auch die statistische Erfassung dieser Vorfälle verbessert werden muss.
Wie lautet Ihre persönliche Botschaft an jene, die sexualisierte Gewalt erleben mussten?
Es ist wichtig, wenn Betroffene sich Unterstützung holen. Sie haben Anrecht auf Beratung, Information und bestimmte Leistungen. Meine Botschaft lautet: Melden Sie sich bei uns, Sie sind nicht alleine!
Yves Schott