©kostas Maros 200526 1 Anne Lévy

Sind im Sommer wirklich alle, die das wollen, auch geimpft?

Erst fünf Prozent der Menschen sind in der Schweiz vollständig geimpft. BAG-Direktorin Anne Lévy hält trotzdem am Zeitplan fest. Kritik hält sie für verfehlt.

Frau Lévy, viele sind coronamüde. Wie ist die Stimmung bei Ihnen?
Das werde ich gar nicht so häufig gefragt, danke! Natürlich haben wir alle genug von Corona – wir, die jeden Tag damit zu tun haben ebenso wie die Bevölkerung. Über mehr Normalität und weniger Einschränkungen würde ich mich definitiv freuen.

Wie lange dauern Ihre Arbeitstage momentan?
Länger als sonst. Aber das gilt für alle anderen Mitarbeitenden auch. Ich bin ja erst seit letzten Oktober dabei, manche arbeiten hingegen schon seit einem Jahr in diesem Rhythmus. Vor dieser Energie habe ich grossen Respekt.

Trotz allem schlafen Sie genug?
Ich bin glücklicherweise eine sehr gute Schläferin. (lacht)

Vor ziemlich genau einem Jahr, am 16. März 2020, rief der Bundesrat den Lockdown aus. Wie haben Sie die letzten zwölf Monate erlebt?
Zweigeteilt. Als ich noch CEO der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel war, ging es vor allem darum, den Schutz der Patientinnen und Patienten sowie der Mitarbeitenden sicherzustellen. Im Sommer hatte ich das Privileg, einige Woche etwas durchzuatmen. Dann fing ich beim BAG an. Eine hochintensive und spannende Phase – zum Glück darf ich auf ein extrem motiviertes Team zählen. Neben der Arbeit bleibt kaum Zeit für anderes.

Haben Sie sich wirklich immer an sämtliche Corona-Massnahmen gehalten?
Es ist mir wohl auch schon passiert, dass ich vergessen habe, die Maske aufzusetzen – aber ja, eigentlich halte ich die Regeln ein. Ich hätte aber schon gerne mehr Menschen getroffen. Beispielsweise sind mein Mann und ich im August umgezogen, haben bis jetzt jedoch keine Einweihungsparty gemacht. Ich finde die Einschränkungen mit Abstand, Handhygiene, Masken tragen und wenig Leute treffen klein im Vergleich zu dem, was man gewinnt. Corona kann bekanntermassen zu ernsthaften Erkrankungen führen. Alle können etwas dazu beitragen, diese Pandemie möglichst gut zu meistern. Und die Bevölkerung trägt dies seit Monaten sehr gut mit.

Seit mehreren Tagen steigt die Zahl der Infektionen wieder an. Bloss: Wo holen sich die Leute das Virus überhaupt?
Erstens ist die neue Variante deutlich ansteckender als die ursprüngliche, das gilt namentlich für jene Mutante aus Grossbritannien. Das könnte einen Teil der beobachtbaren Zunahme erklären. Und man «trifft» halt dennoch Menschen: beim Einkaufen, im ÖV, in der Schule oder überall dort, wo Homeoffice nicht möglich ist. Fakt ist aber: Die meisten wissen nach wie vor nicht, wo sie sich angesteckt haben.

Ist die Impfung ein kleines oder ein grosses Licht am Ende des Tunnels?
Das grosse, definitiv. Nur brauchen wir noch etwas Geduld – wir reden von wenigen Monaten bis alle, die wollen, geimpft sind. Impft sich eine Mehrheit der Bevölkerung, wird der Effekt sicher deutlich spürbar sein und wir nähern uns unserem gewohnten Leben.

In der Schweiz wurden rund 5 Prozent der Menschen vollständig geimpft. Andere Länder wie Israel, die USA oder Chile sind um einiges schneller. Die Kritik am BAG ist heftig. Tatsächlich hinken wir hinten nach.
Nur wenige Länder sind uns einen deutlichen Schritt voraus. Generell ist die Schweiz jedoch gut aufgestellt: Wir waren zum Beispiel die ersten, die den Impfstoff von Moderna auf ordentlichem Weg zugelassen haben. Nur musste die Produktion erst mal anlaufen, schliesslich will die ganze Welt dieses Vakzin. Wir haben immer gesagt: Im zweiten Quartal werden wir deutlich mehr Impfungen erhalten als im ersten. Wir erwarten im März eine Million Impfdosen, im April rund 1,5 Millionen, im Mai und Juni dann zwischen zwei und drei Millionen, sofern alles nach Plan läuft, also die zugesagten Lieferungen eintreffen und die ausstehenden Zulassungen kommen. Zudem hängt der Erfolg auch von den Anstrengungen der Kantone beim Impfen ab. Bis im Mai rechnen wir mit einer Vervierfachung der Impfgeschwindigkeit.

Das sind ziemlich viele Aber. Ein Kritikpunkt war, dass der Bund auf den Impfstoff von Johnson&Johnson respektive Janssen verzichtet. Ein Produkt, das in Bümpliz, vor den Toren Berns, hergestellt wird. Unverständlich, finden viele.
Schauen Sie: Ursprünglich standen 25 Vakzine zur Auswahl, die Schweiz hat am meisten von jenen drei Firmen gekauft, die nun auch zugelassen sind. Das an sich ist ein grosser Erfolg. Über Verhandlungen geben wir keine Details bekannt.

Wie gehen Sie mit Kritik um? Sie gehört sicherlich zu Ihrem Job dazu – und trotzdem ist es nicht immer einfach, heftige Anschuldigungen einfach so zu verdauen.
Konstruktive Kritik nehmen wir gerne entgegen, wir befinden uns in einem kontinuierlichen Optimierungsprozess. Viele Menschen machen sich Gedanken und sind schon fast zu Experten geworden; die eine perfekte, für alle optimale Lösung existiert kaum. Gleichzeitig sind wir wohl auch ein Ventil für angestauten Frust. Unser Ziel ist, so viele Freiheiten wie möglich zu schaffen und dabei eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.

Gleichwohl: Was hätten Sie im Nachhinein anders gemacht, gerade, wenn Sie sich den letzten Herbst vor Augen führen?
Die zweite Welle war heftiger als die erste, überall. Möglicherweise hätte man früher reagieren können und müssen, wir werden das genau analysieren. Was für uns zählt, ist indes die aktuelle Situation und wie wir sie unter Kontrolle halten. Die Lage scheint fragil, die Zahlen steigen an. Wir werden so früh wie möglich reagieren. Wir tun alles, um eine mögliche dritte Welle so gut wie möglich abzufedern.

Was würden Sie denn dem Bundesrat empfehlen, wenn Sie dürften?
Ich muss dem Bundesrat nichts raten, er weiss, was er zu tun hat. (lächelt)

Sie wissen, dass er sehr genau auf Sie und Ihr Team hört, Frau Lévy!
Der Bundesrat trifft seine Beschlüsse auf Basis der epidemiologischen Lage – unter Einbezug von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren. Unser Auftrag ist es, die epidemiologischen und gesundheitsbezogenen Grundlagen für diese Entscheide zu liefern.

Doch Sie bleiben bei Ihrem Zeitplan, wonach alle Menschen, die wollen, bis im Sommer geimpft sind?
Davon gehen wir zurzeit aus, ja. Sofern die Lieferungen eintreffen, die neuen Impfstoffe zugelassen und die Kantone in der Lage sind, die grossen Mengen rasch zu verimpfen. Vergessen wir nicht, dass ausserdem schon bald breit getestet werden wird. So sollen kleine Ausbrüche eingedämmt werden. Zusammen mit den Selbsttests, die ab April zur Verfügung stehen sollten, dürfte sich die epidemiologische Situation hoffentlich verbessern.

Die Gretchenfrage: Wann führen wir wieder ein normales Leben?
Diese Kristallkugel fehlt uns. Sobald wir mit den Impfungen rasch vorwärts machen, breit getestet wird und uns das warme Wetter hilft, dürfte sich die Lage entspannen. Eine Normalität wie vor Covid-19 wird das jedoch noch nicht sein.

Was tun Sie, wenn Ihnen zuhause die Decke auf den Kopf fällt?
Ich habe einen Hund und gehe oft mit ihm spazieren. Sich Zeitinseln zu schaffen, ist sehr wichtig. Meine Tage sind lang, ab und zu gönne ich mir dafür einen gemütlichen Abend mit meinem Mann und einem guten Essen.

Wer kocht häufiger?
Es ist ziemlich ausgeglichen. Wenn ich behaupte, das sei ich, würde mein Mann wohl dementieren. (lacht) Sagen wir es so: Ich mache eher die einfachen Sachen, er die etwas komplexeren.

Yves Schott

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