Cap Bb Blutturm 22

Von nicht vorhandenen Hexen, Skeletten und Gespenstern

Um den geheimnisvollen Turm unter der Lorraine brücke ranken sich viele Mythen. Was ist wahr, was ist erfunden? Turmchef Jonas Schütz schafft Klarheit. Viel Spass mit Teil 4 der Bärnerbär-Sommerserie.

Ein etwas beklemmendes Gefühl beschleicht den Schreibenden, als Blutturmchef Jonas Schütz mit dem grossen Schlüssel die schwere, schmale Holztüre aufschliesst. Kindheitserinnerungen werden dabei wach, drohten mir die Eltern doch jeweils mit Gefängnisaufenthalt im Blutturm, wenn mein Verhalten nicht ganz ihren Vorstellungen entsprach – und das kam öfters vor. Drohgebärden Ende der 1950er-Jahre… Das mag wohl auch ein Grund sein, weshalb ich den «blutrünstigen» Turm unterhalb der Lorrainebrücke bis zum heutigen Tag nur aus der Ferne vom gegenüberliegenden Aareufer wahrnahm. Der begleitete Besuch im Inneren des sagenumwobenen Turmes soll mich nun endgültig vom Kindheitstrauma befreien.

Unterschlupf für Junkies

Gebaut wurde der Rundturm ursprünglich als Teil der Stadtbefestigung im 15. Jahrhundert. Der heutige Name «Blutturm» führe wohl auf eine Verwechslung mit der Felsenburg unterhalb des Klösterlistutzes zurück, klärt uns Jonas Schütz auf, der seit rund zehn Jahren als Blutturmchef waltet. In der Felsenburg wohnte zeitweilig der Scharfrichter von Bern. «Im Blutturm fanden der Überlieferung nach nie Folterungen und Hinrichtungen statt. Die Geschichten rund um den Turm sind grösstenteils Mythen», dämpft Jonas Schütz unsere Fantasie. So hatte der Turm seit der Erstellung 1470 mehrere Namen, wie das Historisch-topographische Lexikon der Stadt Bern preisgibt: «Runder Bulfferthurm an der Ahren» (1620), «Unterer Pulverturm am Wasser» (1667), «Harzwursttürmchen», «Oberster Pulverturm», «Aarenturm», «Aarenpulver- oder Wasserpulverturm» (1699), «Hexenturm» (1756). Bedauernswerter Turm: Ob er an einer Identitätskrise leidet? Seine dicken Sandsteinmauern schweigen heroisch. Zwei Wege führen zum Blutturm: Über die steile Treppe am südlichen Brückenkopf der Lorrainebrücke, Ecke Hodlerstrasse, oder entlang des Uferwegs, der Verlängerung des Langmauerwegs. «Die Blutturmtreppe neben der Lorrainebrücke wird besonders im Sommer häufig von Drogenabhängigen frequentiert», weiss Jonas Schütz zu berichten. Die Informationsbroschüre, welche der Heimverein der Pfadi Berna für Blutturm-Mietende verfasst hat, schreibt dazu Folgendes: «Es kann sein, dass trotz regelmässiger Reinigung Spritzen oder Dreck auf der Treppe liegt. Bitte seien Sie beim Abstieg auf diesen Zustand der Treppe gefasst. Allfällige anwesende Drogenabhängige stellen kaum eine Gefahr dar – grüssen Sie und bitten Sie freundlich um den Durchlass und setzen Sie Ihren Weg nach unten fort. Auf der Passerelle beim Blutturm kann der Zugang von Obdachlosen versperrt sein. Informieren Sie diese, dass Sie ein privates Fest veranstalten und bitten Sie sie freundlich, aber bestimmt, die Passerelle zu räumen (geben Sie den Leuten fünf Minuten Zeit).» Offensichtlich halten sich die Parteien an diese Ratschläge. «Konfrontationen sind mir keine bekannt», blickt der Turmchef auf seine langjährige Tätigkeit zurück.

Strom, aber kein Trinkwasser
Über die Passerelle, vorbei an Wänden mit Graffitis aus dem 20. und 21. Jahrhundert, betreten wir das Eingangsgeschoss. Statt auf Folterinstrumente, vertrocknete Skelette oder Hexen blicken wir auf ein Cheminée, Holzfässer, Tische, Bänke und Gemälde, welche Pfadigruppen liebevoll angefertigt haben. Pfadis sind denn auch die häufigsten Mieterinnen und Mieter des Blutturms. «Der Turm wird ausschliesslich intern vermietet», erklärt der Turmwart. «Die Sicherheitsvorschriften könnten nicht eingehalten werden. Sowohl die Eingangstüre als auch die Wendeltreppe ins Obergeschoss sind sehr schmal und gelten daher nicht offiziell als Fluchtweg», so Jonas Schütz weiter. Dennoch führe der einzige Weg ins Freie durch diese beiden Engstellen. Überhaupt: Fantasie und der Sinn fürs Einfache sind bei Festen unabdingbar. Strom ist zwar seit 2007 vorhanden, aber das Trinkwasser muss in einen Kanister abgefüllt werden, und zwar beim etwa 50 Meter entfernten Aareheim, wo sich auch die WC-Anlage befindet, denn selbst fürs «kleine Geschäft» gibts im Turm kein stilles Örtchen. Jährlich fänden etwa zehn Anlässe statt, welche von Pfadigruppen des Heimvereins durchgeführt würden, erzählt Jonas Schütz. «Sehr beliebt sind Raclette- und Fondue-Abende.» Das Cheminée darf genutzt werden. Brennholz und Holzkohle bringen die Pfadis selber mit. «Wichtig ist, dass das Feuer beim Verlassen des Turms vollständig runtergebrannt ist. Es darf auf keinen Fall mit Wasser gelöscht werden, der erwärmte Sandstein würde sonst zerbersten», warnt Jonas Schütz. Hier wird uns bewusst, dass wir temporär eine Zeitreise zurück ins Mittelalter gemacht haben. Im Turm und auf der Passerelle herrscht striktes Rauchverbot. Neben dem Cheminée und im Dachgeschoss befindet sich je ein Feuerlöscher; wir sind wieder im 21. Jahrhundert angelangt.

Hochwasser zu Gast
Eine enge, steile Wendeltreppe führt uns ins Dachgeschoss. Spinnennetze versperren sanft den Weg. Zu unserer Überraschung treffen wir auf eine fest installierte Bartheke. Dutzende kleiner Lämpchen sorgen bei Festen für Partystimmung. Zur Verdunkelung und als Kälteschutz im Winter sind nummerierte Bretter für die Fensternischen vorhanden. Alte Verkehrsampeln an der Wand dienen als weitere Verzierung. Durch eine separate Aussentür, die sich nur mühsam öffnen lässt, gelangen wir ins Innere des Untergeschosses. Der modrige Holzboden knarrt, es ist feucht und riecht muffig. «Dieser Raum wird eigentlich nie genutzt. Der häufigste Gast ist hier das Hochwasser», erzählt Jonas Schütz, «so auch wieder im vergangenen Juli.» Der Blutturm hält einige Zeitgenossen nicht von Vandalismus ab. «Einmal brannte die Eingangstüre und zum letzten Jahreswechsel versuchte jemand gewaltsam einzubrechen», erinnert sich der Turmchef, «aber die massive Holztüre hielt stand, trotzdem wurde sie beschädigt und musste repariert werden.» Fazit der Besichtigung: Der Zustand «seines» Blutturms lässt Jonas Schütz nicht kalt, er ist ihm irgendwie ans Herz gewachsen. Auch mich lässt der morbide Charme des geheimnisumwitterten Rundturms nicht unberührt. Ich werde dieses Aareufer künftig nicht mehr meiden, ich bin vom Kindheitstrauma geheilt.

Peter Widmer

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