Nadia Tarra

«Wie krieg ich mein Hirn dazu, sich zu beruhigen?»

Musikerin Sophie Hunger über ihr Album «Halluzinationen», die Abbey Road Studios, ihre Hockey-Begeisterung und was sie vom Vaterschaftsurlaub hält.

Die Titel und Inhalte der Lieder des neuen Albums werfen viele Fragen auf. Suchen wir nach Antworten. Von wem möchten Sie gefunden werden?
Ich habe versucht, die Stimmung einzufangen, wenn du nachts in einer Bar bist und die Luft durch den Atem der Leute und den Alkoholgehalt feucht wird. Wenn das, was du trinkst, atmest und sagst, immer mehr eins wird und sich alles zu drehen anfängt. Langsam, schön – nicht so, dass man es nicht aushält.

Alles klar. Aber nochmals: Von wem möchten Sie gefunden werden?
Von der grossen Liebe natürlich. Sie sprechen das Lied «Finde mich» an. Es entstand am Tag nach dem Frauenstreik, der mich sehr gefesselt hat. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben so viele Frauen auf einem Haufen gesehen. Das Gemeinschaftsgefühl, die Energie und die Erkenntnis, dass wir noch mehr bewegen könnten, wenn wir alle am selben Strick ziehen, waren spektakulär.

Wie haben Sie sich am Frauenstreik beteiligt?
Wir haben in einer «GuerillaAktion» zwei Stunden das Central in Zürich besetzt und mit ein paar anderen Musikerinnen auf einem mobilen Wagen ein Konzert gespielt. Zum Beispiel Sachen von Big Zis oder Kleenex. Dann haben wir am offiziellen Umzug teilgenommen. Der eindrücklichste Moment war, als wir an einem Altersheim vorbeifuhren und uns Frauen von einer wirklich anderen Generation von den Fenstern aus zuwinkten. Aus ihrem Blick las ich keine Euphorie, aber Zuneigung und Sorge im Sinne von: «So einfach, wie ihr euch das auf eurem lustigen Wägeli vorstellt, wird der Weg zu Gleichberechtigung nicht, aber unseren Segen habt ihr.» (lacht)

Was haben Sie gesucht, als Sie dieses Album gefunden haben?
Was habe ich gesucht? Puuh! Ich glaube, egal, was man macht, ist es der Versuch, sich auf das Leben einen Reim zu machen und etwas zu gestalten, das für ein kleine Sekunde Sinn ergibt.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, «Halluzinationen» in den Abbey Road Studios aufzunehmen?
Ich dachte, wenn ich mir schon alle Steine in den Weg lege, die es gibt, muss es im besten Studio der Welt sein. Dort haben wir an zwei Tagen, Montag und Dienstag, das Album sechsmal in einem Take aufgenommen.

In welchem historischen Bewusstsein haben Sie das getan?
Ich habe schon vor vielen Jahren Bücher des Tontechnikers der Beatles gelesen. Die Abbey Road Studios waren schon in den Fünfzigerjahren als Tontechnik-Laboratorium der BBC weltweit führend. Und im Studio 2 sieht es jetzt noch aus wie auf den alten Fotos. Es sind die gleichen Vorhänge, die gleiche Uhr, der gleiche Boden. Als ob die Zeit stillgestanden wäre.

Können Sie sich vorstellen, Ihre Kreativität mit Halluzinogenen zu stimulieren?
Mein Problem ist eher: Wie krieg ich mein Gehirn dazu, sich zu beruhigen?

Momentan sind Sie sicher auf Entzug. Was fehlt Ihnen am meisten, wenn Sie keine Konzerte geben können?
Wenn man einen Bühnenmensch ist wie ich, ist es ein Identitätsverlust. Man fragt sich: Wer bin ich noch? Was habe ich zu bieten? Nach dem Lockdown war ich ein paar Tage traurig, doch dann habe ich neue Songs zu schreiben begonnen. Dann gings mir wieder gut.

Weshalb singen Sie von «Roten Beeten aus Arsen» – und nicht von Randen?
Weil es nun mal auf Hochdeutsch gesungen ist! (lacht) Und weil sich Rote Beete auf die anderen Worte, die ich verwende, besser reimt…

Hätten Sie schon mal jemandem Gift geben können?
Nein, das könnte ich nie. Ich kann nicht mal Wespen töten.

Und wenn es nur verbal ist? Dissen Sie keine anderen Künstlerinnen oder Künstler?
Ungern. Einmal, als vor zwei Jahren ein Echo-Preis an Rapper mit antisemitischen Texten (Kollegah und Farid Bang, d. Red.) verliehen wurde, hatte ich einen cholerischen Anfall in Briefform. Da gab es schlaflose Nächte, so sehr hat mich das aufgeregt, denn das war mein Milieu, die Musikszene. Die haben uns alle verraten, und wie feige sie waren. Mani Matter hat doch gesagt, Demokratie bedeutet nicht, dass jeder sagt, was er denkt, sondern dass man sich überlegt, zu welchem Thema man ein tieferes Wissen hat und da dann besonders laut denkt.

Sie singen «Everything Is Good». Aber was ist an der Corona-Pandemie gut?
Nicht viel, aber nun weiss man, dass ein Land mit einer so tiefen Staatsverschuldung wie die Schweiz auch in früheren Jahren Geld für zusätzliche Krippenplätze oder einen Vaterschaftsurlaub easy hätte lockermachen können. Dass das nicht möglich ist, war also eine Lüge.

Sie reisen viel. Welches war Ihre bisher denkwürdigste Komplikation bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen?
Sie möchten über das Lied «Security Check» sprechen? Das war so ein Moment, an dem ich sehr traurig an einem Flughafen an der Sicherheitskontrolle stand. Die Gepäckstücke wurden geröntgt, ich musste meine Finger für einen Drogentest hinstrecken. Zum Schluss hat der Beamte gesagt: «You’re fine, everything is good.» Ich fand es albern, da es so gar keinen Zusammenhang hatte mit dem, wie es mir wirklich ging.

Welches war der Auslöser Ihrer Emotionen?
Ich war aufgewühlt, weil mir gerade etwas Schmerzliches geschehen war und dieser Moment alles andere als «safe» war. Zuhause angekommen, gab mir das den Steilpass für ein neues Lied. So ist das halt: Man stolpert durch die Welt und sammelt so kleine Indizien, Staubkörner und versucht, sich daraus einen Reim zu machen.

Sie haben früher in Bern gelebt. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Nach meiner Geburt in Bern sind meine Eltern mit mir gleich nach London gezogen, aber zwischen sieben und dreizehn Jahren habe ich die Primarschule im Spiegel besucht. Ich war ein riesen SCB-Fan und habe von Renato Tosio sogar einen signierten Stock bekommen, den ich bis heute in Ehren halte. Ich habe an Dienstagen und Donnerstagen die Heimspiele besucht. Das war das Einzige, das ich als Zwölfjährige schon allein unternehmen durfte. Ich selbst habe leidenschaftlich gerne Unihockey gespielt und bin mit Köniz Schweizermeister bei den Juniorinnen geworden.

Sie leben seit sechs Jahren in Berlin. Ziehen Sie Städte mit einem Bären im Wappen vor?
Vielleicht habe ich ein besonderes Vertrauen zu diesen Tieren und fühle mich deshalb in Kreuzberg geborgener als in Paris.

Welcher Berner Künstler war für Sie besonders wichtig?
Endo Anaconda, der jetzt mit Stiller Has auf Abschiedstournee wäre, wenn das Virus nicht dazwischengekommen wäre. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn mit 20 oder 21 an einem Sonntagabend im Helsinki in Zürich im Publikum entdeckte. Ich war ganz aufgeregt und hoffte, dass die Hausband mich auf die Bühne rufen würde, um ein Lied zu singen. Tatsächlich bekam ich die Gelegenheit und habe «Ruler Of My Heart» interpretiert.

Und das hat ihn beeindruckt?
Als ich nachher an die Bar ging, um meine Gage – ein Gratis-Bier – abzuholen, ist er zu mir gekommen und hat mit seiner kräftigen Stimme in österreichisch gefärbtem Berndeutsch gesagt: «Hervorragend! Witermache!» Das war für mich das grösste Kompliment, das ich mir vorstellen konnte! Das hat mir einen richtigen Boost gegeben. Seither denke ich: Man darf nicht mit Lob sparen. Wenn man gut findet, was eine Person macht, muss man zu ihr hingehen und es ihr sagen!

Reinhold Hönle

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