Stress Sincerement 2019 Credit Cyrill Matter (2)

«Wir müssen unseren Arsch retten, nicht unseren Planeten»

Rapper Stress (42) über den Umgang mit Depressionen, die Beziehungskrise mit Model Ronja Furrer, seine Beziehung zu Bern und was ihn an der aktuellen Politik nervt.

Stress, wie geht es Ihnen?
Gut. Mit Ups und Downs. Es ist ein interessanter Moment in meinem Leben, weil ich mich verändere. Ich muss viel lernen. Jeder sollte sich die Zeit für einen Moment der persönlichen Entwicklung geben, sonst bleiben wir dauerhaft in dem gefangen, was wir gewesen sind. Wenn wir die Dinge mit einer gewissen Distanz betrachten, haben sie uns stärker gemacht, weil wir sie überlebt haben.

Sie kommen gerade aus Estland. Welche Gefühle hat dieser Besuch in Ihnen geweckt?
Ich war schon ein paar Mal dort. Was die Touristen interessiert, die schöne Altstadt zum Beispiel, interessiert mich nicht. Das sieht alles noch gleich aus wie damals, als wir Tallinn verlassen haben und in die Schweiz emigriert sind. Ich war damals elf Jahre alt. Nun bin ich mit dem Velo in den Vorort gefahren, in dem wir gelebt hatten. Es schien, als würde es den Leuten besser gehen als früher.

Welche Erinnerungen haben Sie?
In unserer estnischen Community waren wir untereinander alle sehr solidarisch – in unserem Unglück. Ich konnte es zurücklassen und fühle mich deswegen immer noch schuldig. Wenn ich jetzt sehe, dass es der jüngeren Generation gut geht, ist das wunderschön. Die Esten meiner Generation sind verwirrt. Das kommunistische System, das sie um ihre Jugend betrogen hat, können sie nicht zur Rechenschaft ziehen, weil es verschwunden ist, und in der Gegenwart findet sie den Anschluss nicht.

Haben Sie alte Bekannte getroffen?
Nein, wir haben das Land am 2. Dezember 1988 verlassen und waren überzeugt, dass wir nie zurückkommen können. Der Kalte Krieg, der damals herrschte, verhinderte auch, dass wir brieflich in Kontakt blieben.

Ist man in Estland stolz auf Andres Andrekson, der in der Schweiz zum Rapstar geworden ist?
(Erstaunt über diese Frage) Nein, ich bin dort ein ganz normaler Mensch. Es gab ein paar Interviews, aber mich kennt keiner.

Nicht mal in der Hip-Hop-Szene?
Ich glaube nicht. (verschmitzt) Ich kenne sie auch nicht.

In welchen Situationen spüren Sie, dass in Ihnen ein estnisches Herz schlägt?
In den nordischen Ländern sind die Menschen ruhiger und etwas mehr für sich, fast scheu. Da erkenne ich mich manchmal wieder.

Sie haben zur Veröffentlichung Ihres aktuellen Albums sehr persönliche Interviews gegeben, in denen Sie über Ihre Depressionen gesprochen haben, die Sie in den Songs thematisieren. Wie waren die Reaktionen?
Ich habe sehr viel positives Feedback erhalten, vor allem von Menschen, welche sie aus eigener Erfahrung kennen. Es geht darum, den Dialog anzustossen. Es ist mir wichtig, dass auch andere Betroffene sich nicht schämen und Hilfe suchen. Mit meinem Beispiel will ich zeigen, dass man kein Loser ist, wenn man Depressionen hat, und es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn man zum Arzt geht. Ein Therapeut kann dir besser helfen als das jemand aus deinem Umfeld kann. Und du hast ein Recht auf diese Unterstützung, da unsere Gesellschaft mitverantwortlich ist für deine dunklen Gedanken.

Was tun Sie heute, wenn Sie merken, dass Sie wieder in ein schwarzes Lochen zu fallen drohen?
Ich versuche mich daran zu erinnern, dass es nicht das erste Mal ist und nicht das letzte Mal sein wird, denn ich habe auch das letzte Mal überlebt. Mit den Depressionen ist es wie mit dem Meer. Manchmal hat es hohe Wellen und am nächsten Tag kann es schon wieder ruhig sein. Ich gehe auch in die Natur oder treibe Sport. Da kann man viel negative Energie rauslassen.

Finden Sie, dass Sie stärker geworden sind, seitdem Sie Ihre Krankheit mit der Öffentlichkeit geteilt haben?
Das war nicht meine Motivation, aber es tut mir gut, wenn ich anderen helfen kann. Manchmal braucht es nur einen Satz zum richtigen Zeitpunkt.

Gehen Sie noch in die Therapie?
Ich war lange nicht mehr dort, weil ich anwenden wollte, was ich gelernt habe. Bald habe ich jedoch wieder eine Sitzung, denn die Reise nach Tallinn hat wieder viele Fragen aufgeworfen. Nach meinem letzten Besuch wusste ich noch nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Inzwischen ist mir jedoch klar, dass ich nichts unter den Teppich kehren sollte.

Haben die Depressionen die Beziehung zu Ihrer Freundin Ronja Furrer belastet und zugleich vertieft?
Ich habe einen Fehler gemacht, als ich zuerst versuchte, die Krankheit alleine zu bewältigen. Das geht nicht. Wenn du deine Nächsten nicht ins Vertrauen ziehst, geht etwas kaputt.

Weshalb haben Sie das nicht getan?
Am Anfang habe ich mich für meine Depressionen sehr geschämt. Zudem willst du als Mann nicht, dass deine Frau dich sieht, wenn du schwach bist. Es wird erwartet, dass du Kraft und Energie ausstrahlst. Das würde ich auch gerne tun, aber manchmal geht es nicht.

Welchen Einfluss hatten die Konzerte, die Sie in jener Zeit gegeben haben?
Sie waren schlecht und gut, weil ich realisierte, dass ich auch in der Musik etwas ändern musste. Mein Instinkt sagte mir, dass ich einen Grossteil meiner Musiker auswechseln musste. Es brauchte eine andere Energie und eine andere Perspektive.

Welcher Auftritt in Bern ist Ihnen noch präsent?
2015 auf dem Gurten. Ich erinnere mich noch an die Offerte. «Ihr spielt um 1.30 Uhr am Morgen.» «Da schlafen doch alle!» Und es wurde ein Höllenkonzert. Das hätte ich nicht erwartet.

Sie pendeln oft zwischen Ihrer neuen Heimat Zürich und der alten, Lausanne. Welche Gründe gibt es für Sie, in Bern einen Zwischenstopp zu machen?
Ich habe dort viele gute Freunde. Einer davon führte früher das Lokal Kung Fu Burger. Im Gaskessel habe ich 1994 meine erste Hip-Hop-Party erlebt.

Gibt es Berner Musiker, die Sie besonders schätzen?
Die Berner haben ihren eigenen Style und das finde ich cool. In der Vergangenheit habe ich mit Baze gearbeitet. Er war mit auf Tour. Auch Manillio, der zwar aus Solothurn stammt, aber in Bern lebt, finde ich gut. Es gibt viele talentierte Künstler in der Berner Szene wie beispielsweise Nemo und Nativ.

Was meinen Sie zur Politik, die in der Bundeshauptstadt gemacht wird?
Es ist schön, dass das Parlament grüner wurde, aber die Politik fühlt sich trotzdem abgekoppelt von der Realität an. Die Demokratie ist das beste System, aber das heisst nicht, dass die Bevölkerung noch daran glaubt. Eigentlich müssten wir die fähigsten Leute in der Politik haben, doch die können in der Wirtschaft viel mehr Geld verdienen. Ich will nicht sagen, dass wir Politiker besser bezahlen müssten, aber es wäre schön, wenn es mehr frische Kräfte mit Herzblut und neuen Idee gäbe. Ich bin mir bewusst, dass Politik immer ein Kompromiss ist, nur wir leben nicht mehr in einer Welt, in der Kompromisse reichen. (Laut) Es geht momentan nicht darum, diesen fucking Planeten zu retten – er wird auch ohne uns weiter existieren – sondern unseren eigenen Arsch!

Reinhold Hönle

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