Am Donnerstag löst Manuel C. Widmer Kurt Rüegsegger als neuen Stadtratspräsidenten ab. Im Interview erklärt der GFL-Politiker seinen rauen Ton auf Social Media und was er mit Maskenverweigerern vorhat.
Worauf freuen Sie sich in der neuen Funktion?
(Überlegt lange) Man wird bescheiden: In der jetzigen Pandemiezeit freue ich mich schon, wenn wir eine Stadtratssitzung durchführen können. Aber ich freue mich besonders darauf, den Gang der Geschäfte mitbestimmen zu dürfen. Den wirklichen Job als «höchster Berner» sieht man weniger, das ist die Arbeit mit dem Büro des Stadtrates, mit dem ich die Sitzungen vorbereiten kann.
Gibt es neben der Freude auch Befürchtungen?
In den letzten Jahren hat sich die Unart eingeschlichen, den Ratsbetrieb als ineffizient und intransparent darstellen zu wollen und ihm deswegen Steine in den Weg zu legen.
Von wem? Von den Medien?
Nein, die Anschuldigungen kommen aus dem Rat selber. Wir haben im Kanton ein Wahljahr und ich befürchte, dass wir mit einer Flut von Vorstössen rechnen müssen, weil Leute im Hinblick auf die Grossratswahlen auf sich aufmerksam machen wollen. Wir haben schon ohnehin eine grosse Geschäftslast, die wir kaum abarbeiten können.
Das lässt unter Ihrem Präsidium auf eine straffe Sitzungsleitung schliessen.
Ich werde das auf jeden Fall versuchen. Ich werde die Ratsmitglieder dazu anhalten, sich kurz zu fassen. Das Problem sind aber weniger die Redezeiten, sondern vielmehr die Masse an Vorstössen.
Sie sind seit 2009 Mitglied des Stadtrates. Wie bereiten Sie sich auf die neue Aufgabe vor?
Ich war ja schon ein Jahr lang Vizepräsident und Mitglied des Büros. Da bekommt man sehr viel mit von dem Prozedere. Auch darf ich auf eine tolle Unterstützung durch das Ratssekretariat zählen.
Was werden Sie anders machen als Ihr SVP-Vorgänger Kurt Rüegsegger?
Ich werde nicht viel anders machen. Kurt Rüegsegger hat sich dadurch ausgezeichnet, dass er immer ruhig geblieben ist, er liess sich nie provozieren, war ein Fels in der Brandung. Wenn ich das auch hinkriege und dass alle anständig und respektvoll bleiben, dann bin ich dankbar und zufrieden. Vielleicht versuche ich noch ein wenig mehr, aufs Tempo zu drücken.
Nun werden Sie sich ein Jahr lang inhaltlich zurücknehmen müssen. Wie schwer fällt Ihnen das?
Ich habe kein grosses Problem mit dem Rollenverständnis, ich kenne meine Rolle. Ich werde meine Meinung auch ausserhalb der Stadtratssitzungen äussern. Ich konnte in den letzten 13 Jahren meine Auffassungen oft kundtun, so wird es mir nicht schwerfallen, mich ein Jahr lang etwas zurückzunehmen. Wir haben viele neue Leute im Stadtrat. Es ist gut, wenn diese so mehr Gelegenheiten haben, ein Votum zu halten.
Welche Ziele haben Sie sich als Stadtratspräsident gesetzt?
Dass wir Ende 2022 mehr Geschäfte abarbeiten können als neue eingereicht werden. Dann liegt mir die Revision des Geschäftsreglements sehr am Herzen. Da hat es noch viele Pferdefüsse und Stolpersteine, welche einen effizienten, einfacheren und klaren Ablauf verunmöglichen. Wenn wir dieses Geschäft bis Ende 2022 abschliessen könnten, wäre ich froh.
Welche Massnahmen werden Sie gegen renitente Mitglieder des Stadtrates ergreifen?
Wenn ich mir schon jetzt über geeignete Massnahmen Gedanken mache, würde ich dem Umstand nicht gerecht, dass eine Massnahme immer aus einer Situation entsteht. Ich werde also situativ entscheiden. Es geht ja nicht darum, Leute blosszustellen. Ich werde aber versuchen, mich im Rahmen des Reglements klar zu äussern. Ich nenne als Beispiel die Maskenpflicht, die im Stadtrat gilt und woran sich einige Mitglieder nicht halten wollen. Ein Ausschluss von den Sitzungen wäre kaum möglich, weil die Verfassung einem gewählten Stadtratsmitglied die Teilnahme an den Sitzungen und den Meinungsausdruck garantiert. Aber der Sitzort im Saal ist nicht garantiert. Also könnte ich das Mitglied, wenn es die Maske nicht tragen will und damit andere Menschen gefährdet, an einen einsamen Platz verweisen, damit das Gefährdungspotenzial kleiner ist.
Sie sind mit Ihren Tweets auf Twitter nicht gerade zimperlich. Sind die sozialen Medien für Sie ein hemmungsloser Freipass für Wutnachrichten?
Nein, überhaupt nicht. Falls meine Tweets als Wutnachrichten rüberkommen, hätte ich mich vertippt! Aber klar, ich will meinen Standpunkt in aller Deutlichkeit klarmachen . Vielleicht gelingt es mir nicht immer, aber ich gebe mir Mühe, Menschen nicht zu verletzen und zu akzeptieren, dass es andere Meinungen gibt. In den sozialen Medien sollen dieselben Regeln gelten wie im Gespräch mit zwei Personen.
Der ehemalige Chef der SBB, Benedikt Weibel, sagte kürzlich in einem Interview, in der Stadt der Zukunft habe das Auto nichts zu suchen. Balsam für Ihre Seele?
Ja, ich bin auch der Auffassung, dass das Privatauto auf längere Sicht in der Stadt ein Auslaufmodell sein wird, nicht mal in erster Linie wegen des CO2-Ausstosses, sondern wegen Platzmangel. Diesen immensen Raum, der für Parkplätze benötigt wird, können wir in der Stadt Bern für anderes brauchen. Wir werden das Auto aber nicht vollständig aus der Stadt verbannen können, es gibt Gewerbetreibende und Handwerker, die aufs Auto angewiesen sind. Heute haben noch weniger als fünfzig Prozent der Stadtbernerinnen und -berner ein Auto, die Entwicklung geht also genau in diese Richtung.
In Ihrem Porträt im Netz zählen Sie auf, was Sie mögen respektive was Sie nicht mögen: Warum mögen Sie gerade den FC Breitenrain?
Der FC Breitenrain hat mir vor über zwanzig Jahren einen meiner ersten öffentlichen Auftritte als DJ ermöglicht. Deshalb bin ich einfach wahnsinnig gerne auf dem «Spitz» (Spitalacker, die Red.). Diesen Quartierfussballplatz mitten in der Stadt finde ich einmalig. Ich mag die Leute, die Atmosphäre. Es ist aber auch ein Ort meines politischen Kampfes. Lärmempfindliche Nachbarn bewirkten, dass der Kanton den Breitsch-Fans Megafone, Glocken und Pauken verboten hat. Dass ein Fussballplatz, der seit hundert Jahren besteht, von zugezogenen Quartierbewohnenden erfolgreich bekämpft werden kann, geht mir gegen den Strich. Übrigens gibt es auf dem «Spitz» die beste Bierbratwurst der Welt! Es ist eine langsam gewachsene, tiefe Liebe zum FC Breitenrain.
Sie stören sich an mutloser Stadtarchitektur. Was verstehen Sie darunter?
Wenn ich durch neuere Quartiere gehe, werde ich das Gefühl nicht los, dass viele Bauten uniform daherkommen. In der Stadt Bern denke ich beispielsweise an Wankdorf-City. Wir wollen mit unserer Architektur niemanden brüskieren. Bern sollte ab und zu den Mut haben, einen architektonischen Wurf zu landen, der einen «kitzelt». Ich denke an Bauten wie die Bibliothèque nationale de France oder das Centre Pompidou in Paris. Als mutige Bauten in Bern und Umgebung betrachte ich die Wohnüberbauung «Fünf Freunde» an der Schwarztorstrasse oder den Garden Tower in Wabern. Geht doch!
Sie kochen fürs Leben gern. Was denn am liebsten?
Am liebsten koche ich immer wieder neue Gerichte, pröble, ändere bestehende Rezepte. Aber eines meiner absoluten Lieblingsgerichte ist das «Ragù di cinghiale», ein Wildschwein-Schmorgericht aus Ligurien, welches zu Nudeln oder Kartoffelgratin hervorragend schmeckt.
Sie leiden immer noch unter Long Covid mit eingeschränktem Geruchs- und Geschmackssinn. Macht es denn noch Spass zu kochen?
Zum Glück habe ich noch das Erinnerungsvermögen, das einigermassen intakt ist. Ein Genuss ist es seit zwei Monaten tatsächlich nicht. Aber jeder Biss ist mit der Hoffnung verbunden, wieder auf den Geschmack zu kommen. Seit ich unter diesem Verlust leide, fehlen mir die richtigen Worte, Geschmäcke und Gerüche beschreiben zu können. Ich weiss, dass es lange dauern kann; Sorgen mache ich mir erst etwa nach einem halben Jahr.
Peter Widmer