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Arien im Schweinestall

Lange war es ruhig um die Berner Medienkünstlerin Chantal Michel. Nun verbindet sie auf einem Gutshof in Diessbach bei Büren Kunst mit Landwirtschaft. Ein Besuch bei der Hausherrin.

Es herrscht klirrende Kälte und ist stockdunkel, als der Bus in Diessbach bei Büren hält. 1037 Einwohner zählt die Gemeinde. Seit der Pandemie auch eine berühmte Berner Medienkünstlerin: Chantal Michel. Diese empfängt den Bärnerbär exklusiv auf ihrem Gutshof, einem Jugendstil-Bau mit einem 5000 m2 grossen Garten.

Ein warmes Licht brennt von weitem in der Dunkelheit und weist den Weg von einer schneebedeckten Strasse zu Michels Hof. Da steht sie auch schon: Die wie aus einer anderen Zeit oder aus einem Gemälde gefallene Künstlerin. Sie trägt die Haare zu einem Zopf geflochten und ein Kleid mit Schürze und Wollumhang. Eine Gutsherrin oder Bäuerin, die sich schick gemacht hat für die Sonntagsmesse? «Das Schöne am Künstlerinnen-Sein ist, dass du alles sein kannst, was du willst», sagt Michel.

Mit der Pandemie ist es ruhig geworden um die Berner Kunstikone, die spätestens 2001, als der Berner Starkurator Harald Szeemann (✝) sie an der Biennale in Venedig präsentierte, weltweit Beachtung fand. Michel ist im eigentlichen Sinne des Wortes anders, macht sich selbst zum Kunstwerk und inszeniert sich in prächtigen Roben und Perücken, schlüpft in die unterschiedlichsten Rollen und verschwindet doch immer hinter ihrem Werk. Denn mit Narzissmus, den man Performancekünstlerinnen leichtfertig zuschreiben könnte, haben ihre Selbstinszenierungen nichts zu tun. Sie kreiert andere Ichs, wird zur Zeitreisenden, welche die Zuschauenden für kurze Zeit mitnimmt in ihre geheimnisvolle Welt, in der Fundgegenstände, Videos und Fotografien ein Gesamtkunstwerk bilden.

Verwunschener Hofladen
Seit 2008 geht Michel von Orten aus. So war sie nach einem Aufenthalt auf Schloss Kiesen, wo sie zur Legende gewordene «Dîners blancs» inszenierte, zuletzt im «Brückenkopf» im Marziliquartier zuhause. Nun wendet Michel sich in ihrer neuen Residenz der Landwirtschaft zu, hat sogar eine Ausbildung in diesem Bereich gemacht. «Ich gehe immer auf die jeweilige Situation ein», führt sie aus.

Als sie den seit zehn Jahren leerstehenden Hof in Diessbach bei Büren bezog, war dieser in desolatem Zustand. Nun nimmt Michel Raum für Raum mit ihrer Kunst ein, renoviert gemeinsam mit der Denkmalpflege die insgesamt acht Zimmer und stattet diese laufend aus. «Hier hat einst der König von Diessbach gewohnt», sagt sie in ihrer für sie typisch romanesken Art. «Ich hingegen bin hier Hofdame, Handwerker und Bäuerin in einem.»

Vor dem Haus, wo Michel Gäste, die sich zu ihren Diners anmelden (siehe Box) mit Glühwein empfängt, sitzt ein ausgestopfter Falke auf einer Stange. Aus einem alten Radio ertönen melancholische Fado-Klänge, im Hintergrund plätschert ein Brunnen. Es ist, als wäre man in einem surrealen Traum, in einem Märchen mit teils unheimlichen, teils lieblichen Figuren gelandet. «Es geht mir darum, die Atmosphäre vergangener Zeiten einzufangen», sagt Michel, die in einem nostalgisch eingerichteten Hofladen eigens eingemachte und fermentierte Spezialitäten aus ihrem Bauerngarten feilbietet.

Dinge recyclen und Vintage-Kleidung tragen – das tat diese Künstlerin schon immer – bevor Nachhaltigkeit in aller Munde war. «Man muss dem Klang und dem Licht folgen», rät sie beim Rundgang und führt in die einstigen Schweineställe. Diese Unorte, die den einst hier lebenden Tieren kein Tageslicht gewährten, sind nur halb geöffnet. Durch den Türspalt blickt man auf eine Fotografie, in denen Michel, mehrfach verdoppelt und wie eine Dame des 19. Jahrhunderts gekleidet, sich selbst begegnet. Als wäre der Kontrast nicht gross genug, erklingt hier, wo einst Nutztiere hausten, Opernmusik.

Eine unwirkliche Stimmung herrscht auch im Gewölbekeller. Hier finden Diners mit vier Gängen mit Gemüse aus dem eigenen Garten statt. Eine prächtige Tafel mit weissem Geschirr, Kristallgläsern und Rosen wartet auf Gäste, die schliesslich mit ihrem Besuch selbst Teil der Inszenierung werden.

Helen Lagger

Chantal Michel wurde 1968 in Bern geboren. Sie hat nach einer Ausbildung zur Keramikerin an der Schule für Gestaltung in Bern an der Kunstakademie in Karlsruhe studiert. Sie machte sich durch Selbstinszenierungen in Videoarbeiten, Fotografie und Performances einen Namen. Seit 2008 verwandelt die Künstlerin verschiedene leerstehende Gebäude in Gesamtkunstwerke.

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