Jürg Halters neuer Gedichtband heisst «Gemeinsame Sprache». Warum wir uns schwertun, miteinander zu sprechen, erzählte der Dichter und Denker im «Pyri», seiner Lieblingsbeiz.
Der Dichter Jürg Halter schlägt als Treffpunkt das Café des Pyrénées vor, eine Berner Institution, in der schon Meret Oppenheim und ihre Künstlerfreundinnen und -freunde ein- und ausgingen. «Das Pyri ist einer der wenigen verbleibenden Orte, an denen verschiedene Generationen zusammenkommen und unterschiedliche politische Ausrichtungen aufeinandertreffen», fasst Halter seine Begeisterung für das legendäre Café zusammen. Er grüsst links und rechts, gibt einem stadtbekannten Drogensüchtigen Kleingeld und erzählt: «Ich habe hier manches Bier mit Polo Hofer gehoben.» Halters Verhältnis zu Bern ist ambivalent. «Ich habe dieser Stadt viel zu verdanken, reibe mich aber auch an ihr.» Er lebe seit nunmehr zwanzig Jahren von seiner Kunst und werde trotzdem immer noch danach gefragt, ob er vom Schreiben leben könne. «Das ist wohl typisch schweizerisch.» Halter kommt gerne mit den Menschen ins Gespräch. Sei es in Kneipen wie dem Adrianos, dem Kreissaal oder den drei Eidgenossen, sei es auf Twitter, Facebook oder Instagram, wo er in regelmässigen Abständen provokante Statements raushaut oder auch poetische Momente mit seinen Followern teilt. Zu Messis Transfer twitterte er kürzlich: «Multimillionär, Steuergrossbetrüger und Vorbild Messi wird mit seinem Wechsel zu einem Club, der im Besitz einer islamistischen Diktatur ist, die für die nächste Fussball-WM bislang über 6500 Arbeiter hat verrecken lassen, den Klimawandel aufhalten. Daran glaube ich ganz fest.» Ein nachgeschobenes «Ironie off», braucht Halter nicht. Er nennt seine Beiträge oft «aus meinem Gedankenarchiv». Wer polarisiert, bekommt Gegenwind. «Ich bin hart im Nehmen», sagt er dazu. Auch bei seinen Gedichten ist ihm der Austausch mit einer breiten Leserschaft wichtig. «Ich schreibe weder für den Literaturbetrieb noch für irgendwelche Jurys. Artifzielle Lyrik, die niemand liest, interessiert mich nicht.» An seine Lesungen kämen auch Leute, die sonst nie mit Poesie in Berührung gerieten. «Wenn ein Büezer sagt: ‹Was machst du da für einen Scheissdreck?›, setze ich mich damit auseinander.» Dass Menschen zunehmend nur unter Gleichdenkenden bleiben, macht dem Dichter Sorgen. «Die Digitalisierung hat das vorangetrieben.» In seinem im Januar dieses Jahres herausgekommenen Gedichtband «Gemeinsame Sprache» schreibt Halter unter anderem: «Je mehr wir uns informieren, je mehr werden wir in dem bestätigt, was wir bereits zu wissen glauben. Bis daran nicht mehr zu zweifeln ist.» An eine schwarzweisse Welt glaubt Halter nicht. «Täter können immer auch Opfer sein und umgekehrt.» Das Feindbild des alten weissen Mannes etwa fndet er viel zu einfach. «Die AfD hat viele junge Unterstützer, Trump wurde von zahlreichen Latinos gewählt.»
«Vieles war Bullshit»
Wie hat er als Kulturschaffender die Corona-Zeit erlebt? «Vielschichtig.» Als jemand, der schon so lange selbstständig sei wie er, könne er gut mit einer gewissen Unsicherheit umgehen. «Aber ich bin bürokratisch unbegabt und hätte wohl mehr Geld vom Kanton bekommen können.» Halter schrieb Essays und war enttäuscht über die Live-Streams, die für ihn keinen Ersatz zum realen Theaterbesuch boten. «Vieles war Bullshit, den sich wohl niemand angeschaut hat.» Der Podcast-Manie steht er eher kritisch gegenüber. «Ich spreche lieber mit den Leuten.» Das Thema, wie wir miteinander sprechen können, was uns eint und trennt, zieht sich denn auch durch seinen neusten Gedichtband. Aber auch Vereinsamung, Drogenrausch oder streunende Katzen kommen vor. «Ich bin in multiplen Beziehungen und führe bilaterale Verhandlungen mit der halben Stadt», antwortet Halter auf die Frage, ob er fest liiert sei. Er sitze allerdings nicht mit seinem Laptop in Cafés herum, um auf Geschichten zu stossen. «Es passiert oder eben auch nicht.» Den Vorwurf, er pfege eine Dichterattitüde, kontert er mit Witz. «Das fnde ich nicht. Es gibt keine Fotos von mir, auf denen ich an einer HermesSchreibmaschine sitze und in die Ferne blicke.» Und überhaupt: «Ich bin Dichter.» Obwohl er sich gerne einmischt, schätzt Halter sein Einwirken auf die Welt als gering ein. «Einfuss und Vermögen sind minim kleiner als bei Mark Zuckerberg», lacht er. Trotzdem habe er nicht resigniert und weiterhin den Antrieb, sich zu äussern. Er tut dies manchmal auf sarkastische, manchmal auf melancholische oder poetische Weise. Auf Twitter teilte er kürzlich folgende Begebenheit: «Gerade wenn man an der Welt verzweifelt, klingelt es an der Tür und der 4-jährige Nachbar sagt: ‹Ich habe ein Geheimnis.› Ich: ‹Schön, erzählst du es mir?› Er: ‹Nein, sonst ist es ja kein Geheimnis mehr.› Ich: ‹Ok›. Er: ‹Also, tschüss.›» Und Halter schliesst mit: «Immerhin die Welt bleibt rätselhaft.»
Helen Lagger