Ricky Kam, das Ausnahmetalent am Klavier, kann mit seinen 17 Jahren bereits auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Dennoch schlägt der Gymnasiast einen anderen beruflichen Weg ein.
Bei unserer Ankunft dringen aus dem Einfamilienhaus in Muri klassische Klaviertöne nach draussen. Kein Zweifel, das «Piano-Wunderkind» Ricky Kam ist am Üben. Beim Klingeln unterbricht er sein Spiel, öffnet die Tür und heisst uns höflich einzutreten. Im geräumigen Wohnraum steht an der Fensterfront der Konzertflügel, auf welchem Rickys Maskottchen Ching Ching thront, ein grosser Plüschaffe. Ching Ching begleitete ihn während seiner Kindheit an alle Auftritte. Aber das war früher. Viel früher. Heute bleibt der Affe auf dem heimischen Flügel.
Ricky sass bereits im zarten Alter von zwei Jahren am Klavier und übte sich in ersten Tönen. Seither hat ihn das Instrument nie mehr losgelassen. Konnte er da noch Kind sein? «Ja, auf alle Fälle», antwortet der heute 17-Jährige ohne zu zögern. «Ich fand immer genügend Zeit für andere Dinge.» Sein Vater habe ihn gefördert und unterstützt, aber nie gezwungen. Seit mehr als zehn Jahren besucht Ricky zweimal wöchentlich den Klavierunterricht bei Albert Sidler am Konservatorium Bern.
Musik liegt der Familie im Blut: Vater Tony Kam, früher Kinderchirurg und heute Inhaber einer Praxis für chinesische Medizin in Bern, spielt Klavier und Violine, die beiden älteren Brüder und Schwestern beherrschen ebenfalls das Klavierspiel. Den «Verleider» kannte Ricky nie: «Ich bin mit dem Klavier aufgewachsen, kenne nichts anderes. Es ist mein ständiger Begleiter, ich könnte mir ein Leben ohne Klavier nicht vorstellen», sagt er bestimmt.
Das absolute Gehör
Während der Schulzeit übt Ricky Kam zwei Stunden am Tag. Die Zeit, die er benötigt, bis ein Stück «sitzt», hänge von der Schwierigkeit und Länge ab, sagt Ricky. Er nennt als Beispiel die Klaviersonate «Pathétique» von Ludwig van Beethoven: «Bis ich dieses Stück ohne Noten spielen kann, benötige ich etwa eine Woche und dann nochmals etwa zwei Wochen, bis ich zufrieden bin.»
Für Ricky ist es selbstverständlich, an Konzerten völlig ohne Noten zu spielen. Das kommt nicht ganz von ungefähr, denn Ricky Kam besitzt die seltene Gabe des absoluten Gehörs. Damit kann er die Höhe eines beliebigen gehörten Tons ohne Hilfsmittel bestimmen, das heisst seine Tonklasse innerhalb eines Tonsystems benennen. «Dadurch ist es für mich viel einfacher, ein Stück zu lernen», räumt er ein.
Ricky trat schon mit zahlreichen namhaften Künstlerinnen und Künstlern in TV-Shows im In- und Ausland auf: Mit Helene Fischer, mit Stargeiger David Garrett oder mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang, um nur einige zu nennen.
Als Fünfjähriger beteiligte er sich 2011 an der deutschen Castingshow «Das Supertalent», wo er den dritten Rang belegte und nicht nur die Herzen des Publikums, sondern auch der Jury im Nu eroberte. Selbst der für seine umstrittenen und groben Kommentare berüchtigte Dieter Bohlen liess sich zur stehenden Ovation hinreissen und geizte nicht mit Lob: «Wir sind noch nie für jemanden aufgestanden. Da kannst du dir echt etwas darauf einbilden!» Gewiss, der Jöö-Effekt mag damals auch eine gewisse Rolle gespielt haben …
Tränen bei seinem ersten Konzert im Casino
Befragt nach dem eindrücklichsten Auftritt, überlegt Ricky Kam nicht lange: «Ganz klar mein erstes öffentliches, eigenes Konzert am 17. Dezember 2022 im Casino Bern. Dort kam das Publikum wegen mir, es war einfach überwältigend. Ich bin dem Kulturverantwortlichen des Casinos, Nik Leuenberger, unendlich dankbar, dass er mich für ein Konzert anfragte», schwärmt der junge Künstler.
Obwohl Ricky vor einem Konzert absolut kein Lampenfieber kennt, wie er selber sagt, übermannten ihn während der Standing Ovation am Schluss der zweistündigen Darbietung die Gefühle und er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. «Ich war erschöpft und voller Emotionen, als die Lichter im Saal wieder angingen und ich alle die bekannten Gesichter entdeckte», erinnert er sich.
Nach welchen Kriterien hat er das Konzertprogramm vom 17. Dezember zusammengestellt? «Ich achtete auf eine ausgewogene Balance zwischen kraftvollen, tempogeladenen, mitreissenden Stücken einerseits und sanften, romantischen andererseits – eine Achterbahnfahrt», lacht Ricky verschmitzt. Es fanden sich schliesslich bekannte, populäre, aber anspruchsvolle Klaviersonaten von Beethoven, Chopin und Liszt auf dem Programm. Dem Publikum gefiels und es dankte das virtuose Klavierspiel des jugendlichen Pianisten mit minutenlangem Applaus.
Studium statt Musikkarriere
Auf ein einzelnes «Lieblingsstück» mag sich Ricky Kam nicht festlegen. «Im Casino präsentierte ich eine Auswahl meiner Favoriten», sagt er rückblickend. Aber einer seiner Lieblingskomponisten sei Ludwig van Beethoven. «In vielen seiner Werke spüre ich die Kraft, die Wucht, aber auch eine Art Verärgerung, vielleicht wegen seiner zunehmenden Taubheit, die dazu führte, dass Beethoven seine Karriere als Pianist aufgeben und sich aufs Komponieren konzentrieren musste.»
Ricky nennt gleich mehrere musikalische Vorbilder, die er bewundert: Den Chinesen Lang Lang, den er persönlich kennenlernen durfte, den Russen Evgeny Kissin oder die ukrainische Pianistin Valentina Lisitsa.
Die Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Musikerkarriere wären bei Ricky Kam eigentlich erfüllt. Trotzdem hat er sich entschlossen, nach der Matura ein Medizinstudium zu ergreifen – wie sein Vater und seine Geschwister. «Heute spiele ich mit Freude und Spass Klavier. Ich fürchte, dass ich die Freude und das Hobby verlieren würde, wenn ich finanziell aufs Klavierspielen angewiesen wäre», sinniert der 17-Jährige. Einmal in der Elbphilharmonie in Hamburg aufzutreten, ist derzeit noch ein Traum von Ricky.
Zum Schluss spielt er exklusiv für den Bärnerbär einen Auszug aus der Klaviersonate Nr. 8 in c-Moll «Pathétique» von Ludwig van Beethoven. An diese Sonate wagte er sich erstmals vor fünf Tagen – heute interpretiert Ricky sie bereits ohne Noten!
Peter Widmer
Ricky Kam wurde am 19. November 2005 in Bern geboren. 2011 errang er bei der deutschen Castingshow «Das Supertalent» den dritten Platz. Es folgten unter anderem Auftritte bei Kurt Aeschbacher, Helene Fischer und Carmen Nebel. Am 17. Dezember 2022 gab Ricky sein erstes öffentliches Konzert im ausverkauften Casino Bern. Ricky hat zwei Halbschwestern und zwei Brüder, besucht zurzeit das Gymnasium Kirchenfeld und wohnt bei seinem Vater in Muri bei Bern.