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Ein Programm voller Pinocchios, Philosophie und Pluralismus

Nicolette Kretz leitet das Theaterfestival «Auawirleben». Dem Bärnerbär hat sie ver­raten, wo man in diesem Jahr etwas über Stoizismus lernt und warum queere Themen und Rassismus uns alle angehen.

Ein Gnu? Ein Zebra? Oder doch ein Tiger? Das Tier, das als Emblem der 41. Ausgabe des Theaterfestivals «Auawirleben» dient, ist ein Mischwesen, das sich nicht so leicht schubladisieren lässt. Um vielfältige Identitäten geht es denn auch in den Theaterstücken, Performances und experimentellen Projekten, die auf dem diesjährigen Programm stehen. Es kommen viele queere Menschen und People of Color zu Wort. Klar, dass das nicht allen passt. «Mich interessieren Holzgenitalien nicht», schrieb ein Leser unter die Vorschau, die in der Zeitung «Der Bund» erschien. Tatsächlich kommen im Stück «The Making of Pinocchio», des aus Glasgow stammenden Duos Cade & MacAskill Holzstäbe vor, die den Körper an diversen Stellen erweitern – es geht um die Geschlechts-Transition von Ivor MacAskill. Warum sollte uns das interessieren? «Weil es spannende Themen sind», so Nicolette Kretz, die seit 2015 als Leiterin des Theaterfestivals amtet. Rassismus war für mich lange kein grosses Thema, weil ich es als weisse Frau nicht erfahren habe. Aber es geht mich sehr wohl etwas an.» Kretz fügt rasch an: «Unsere Stücke kommen nicht didaktisch daher. Sondern mit viel Humor.» «The Making of Pinocchio» sei ein witziges Stück, das ein schweres Thema verhandle. «Birth Right» – also Geburtsrecht – lautet das Motiv des diesjährigen Festivals. «Wir kommen alle mit gewissen Chancen und Erwartungen auf diese Welt», so Kretz. Ist es ein Bub oder ein Mädchen? Gender sei wohl die erste Zuschreibung, für die wir nichts könnten.

Eintauchen und diskutieren
Wie jedes Jahr, findet das Festival an verschiedenen Spielstätten, im Tojo, in der Grossen Halle, in der Dampfzentrale und im Schlachthaus statt. Dass Theater mehr sein kann als ein paar Darstellende auf einer Bühne, gehört seit jeher zum Selbstverständnis des Festivals, das 1983 vom einstigen Direktor des Berner Stadttheaters, Peter Borchardt, gegründet wurde. Dieses Jahr ist mit «Les Thermes» eine besondere Installation dabei. Man kann in der Grossen Halle der Reitschule ein Bad in einer Anhäufung von Bällen nehmen, wie es sonst Kinder in Einkaufszentren tun. 250 00 Plastikbällchen in einem Holzpool laden zum Baden in der stoischen Philosophie ein. Denn auf jedem Ball steht ein Aphorismus – ein Sinnspruch oder eine Lebensweisheit – geschrieben, der zum Diskutieren auffordert. Die Idee dazu hatte das Kollektiv France
Distraction, eine Gruppe aus bildenden Künstler:innen und Performer:innen aus Lille und Brüssel.

Vom Theaterkribbeln
Im Tojo-Theater tritt die aus Berlin stammende Theater- und Filmschauspielerin Thelma Buabeng mit ihrem Stand-up-Comedy-Format «Security» auf. Ein fiktives Sicherheitsteam erscheint in diesem Stück, sobald eine Situation rassistisch zu werden droht. Eine Art Spezialeinheit gegen Diskriminierung. Das führt natürlich zu absurden Momenten, entlarvt aber gleichzeitig die Dringlichkeit dieses Themas. «Es ist enorm lustig», verspricht Kretz. Inklusion ist beim «Auawirleben» mehr als ein Lippenbekenntnis. So gibt es im Team von Kretz eine gehörlose Mitarbeiterin. Im Programmheft steht immer, wie und für wen das jeweilige Stück zugänglich ist. Mit «deskriptiver Audio-Einführung, Kinderbetreuung oder Übersetzung in Gebärdensprache», heisst es da etwa. Kretz selbst ist zweisprachig aufgewachsen, hat einen Teil ihrer Jugend in England verbracht. «Meine Eltern haben mich früh in die Royal Shakespeare Company mitgenommen.» Fasziniert sei sie von diesen Spektakeln gewesen. «Ich spürte das Theaterkribbeln im ganzen Körper. Das geht mir heute noch so.» Dass sie nebst Thea­terwissenschaft und Anglistik auch Betriebswirtschaft studierte, kommt Kretz heute zugute. «Ich kann eine Buchhaltung lesen und habe keine Berührungsängste mit Zahlen.» Ihr siebenköpfiges Team führt sie in flacher Hierarchie. «Wir entscheiden viel zusammen.» Der Name des Festivals steht laut Kretz für die Zweischneidigkeit des Lebens an sich. «Wir leben», das sei doch eine freudige Nachricht. «Aua», das habe hingegen mit Schmerz zu tun. Beides gehört irgendwie zusammen.

Helen Lagger

PERSÖNLICH

Nicolette Kretz wurde 1977 in Schlosswil geboren. Sie hat in Bern und Berlin Theaterwissenschaft, Betriebswirtschaft und Anglistik studiert. Seit 2015 ist sie Leiterin des Theaterfestivals «Aua
wirleben». Kretz lebt gemeinsam mit Katze Jamie in Bümpliz.

PROGRAMMAUSWAHL

The Making of Pinocchio: Mi, 10.5., 19 Uhr; Do, 11.5., 20 Uhr
Dos Vidas. Zwei Leben: Do, 11.5., 20 Uhr; Fr, 12.5., 19 Uhr
Funeral: Fr, 12.5., 19 + 21 Uhr; Sa, 13.5., 18 + 20 Uhr
Security: Sa, 13.5., 22 Uhr
Apparitions: Sa, 20.5., 20 Uhr; So, 21.5., 18 Uhr
Les Thermes: Mi, 10.5., – So, 21.5.

ab Öffnung des Festivalzentrums bis 00.00.

Vorverkauf: www.auawirleben.ch

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