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«Eine Liebeserklärung an die Länggasse»

Der Berner Christoph Simon (50) über die autobiografischen Züge der Titelfigur seines neuen Solo-Kabarett-Stücks «Strolch».

Strolch ist ein alemannisches Wort aus dem 16. Jahrhundert. Sind Sie sicher, dass Leute von heute überhaupt noch wissen, was es bedeutet?
Ich habe diesem Stück den Titel «Strolch» gegeben und hoffe, dass jeder unter diesem Wort einen Filou oder charmanten Tunichtgut versteht. Ich selbst denke bei diesem Wort an den Disney-Film «Susi und Strolch».

Weshalb passt die Bezeichnung zu Ihrer Hauptfigur?
Ich selbst wurde schon einige Male Strolch genannt. Aber darauf will ich nicht weiter eingehen, ich habe auch nicht weiter nachgefragt! (lacht) Grundsätzlich handelt es sich in dieser Geschichte um einen Charakter, der sich immer etwas durchmogelt, oft mit mehr Aufwand, als wenn er von Anfang an ehrlich gewesen wäre. Immerhin gelingt es ihm meistens, sich herauszureden, wenn er sich wieder in Schwierigkeiten gebracht hat.

Was war bei diesem Stück zuerst, die Figur oder der Name?
Ausgangspunkt ist normalerweise eine Figur oder eine Atmosphäre, aber dieses Mal war es ganz klar das Quartier. «Strolch» ist in erster Linie eine Liebeserklärung an die Länggasse, die ich mit neuen Augen sehe, seitdem ich für einen Auftritt in meinem Stammlokal, der wegen Corona leider nicht stattfinden konnte, viel über dieses Quartier recherchiert habe.

Sie leben seit 13 Jahren hier. Was macht dieses Quartier speziell?
Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Vorher lebte ich zehn Jahre im «Breitsch»/Breitenrain, wo ich die Durchmischung und bunte Vielfalt mochte. Meine Gefährtin und ich wohnten dort nur 70 Schritte voneinander entfernt, weshalb es besonders einfach war, uns bei der Betreuung unserer Kinder abzuwechseln. Als sie in der Länggasse in eine Wohnung im Haus ihres Onkels ziehen konnte, habe ich mit etwas in ihrer Nähe gesucht. Zuerst kam mir das Quartier abweisend, fast schon studentisch vor, weil im Sommer mangels Kundschaft die Hälfte der Bars und Beizen geschlossen hatten, aber dann wurde die ganze Mittelstrasse zu einer Art italienischer Piazza und das «Sattler» zu meinem Stammlokal.

Weshalb fühlen Sie sich dort wohl?
Es gibt dort den besten Cappuccino in dieser Gegend. Wertvoll ist für mich auch die strategisch gut platzierte Hintertür, durch die ich fliehen kann, falls zu viele Leute, die mich kennen, hereinkommen und ich nur in Ruhe Zeitung lesen wollte. (schmunzelt)

Dann sind Sie vor allem morgens dort anzutreffen?
Nein, eher am frühen Nachmittag. Oft für einen Espresso, um wieder in die Gänge zu kommen. Oder für das erste Bier um vier, was aber blöd ist, weil ich dann sitzen bleibe, bis die Stühle auf den Tisch gestellt werden …

Das klingt, als würden Sie sich mit 50 wie Ihr Strolch als Midlife Cowboy fühlen?
Ja, ich fühle mich jetzt als Best-Ager und habe eine gewisse Ruhe gefunden. Ich weiss, was ich will, was ich kann und was mir wie lange guttut. Gleichzeitig kommt allerdings die Angst. Es geht jetzt voll Karacho von den besten zu den letzten Jahren. Ich sehe langsam den Tunnel am Ende des Lichts.

Das war aber schon Ihren früheren Texten anzuhören …
Stimmt. Die Altersmelancholie beginnt mit der Jugenddepression.

Ihr Bühnengesicht erinnert mich an Buster Keaton, den wohl berühmtesten Komiker, der nie gelacht hat.
Also ich finde ihn den Grössten. Leider habe ich ihn erst spät für mich entdeckt – als ich mit den Kindern seine Videos zu schauen begann. Manchmal rührt mich sein Gesicht zu Tränen. Ein ernstes Gesicht funktioniert eben immer.

Sie wurden 2014 und 2015 Schweizer Meister im Poetry Slam. Eine unterschiedliche Erfahrung?
Der Gewinn des ersten Titels war für mich extrem emotional. Danach konnte ich zwei Tage kaum geradeaus laufen. Ich konnte es kaum glauben! (lacht) Ich hatte mich über ein Jahr lang vorbereitet, besuchte sogar vorher die Lokalitäten in Basel. Als meine Rechnung am Schluss aufging, kam ich mir wie ein Slalomfahrer bei Olympia vor. Ich hatte jedes Fähnchen genauso erwischt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Im Jahr darauf war ich dann schon so satt, dass ich den Sieg auch jemand anders gegönnt hätte.

Wie haben Sie das berüchtigte Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis empfunden?
Ich bin sang- und klanglos untergegangen, aber das hat mit nicht wehgetan. In meiner Generation von Schweizer Schriftstellern war beinahe jeder schon mal in Klagenfurt. Wenn man sich dann trifft, unterhält man sich darüber wie im Militär über die RS. Es hat einfach einen hohen sentimentalen Wert.

Der bedeutendste Kabarettpreis ist der Salzburger Stier. Was hat er Ihnen bedeutet?
Der Stier war für mich sehr wichtig. Er gab mir das Gefühl, dass es nicht nichts ist, was ich hier mache. Nicht, dass es super wäre, aber dass es auch wirklich jemanden interessiert.

Wann entscheidet es sich, für welche Form Sie schreiben?
Zuerst bin ich einfach froh, wenn ich Zugriff auf ein Thema bekomme. Heute Morgen musste ich für eine Wurzelbehandlung zur Zahnärztin, wovor ich persönlich immer zurückschrecke. Ich habe schon im Wartezimmer Notizen zu machen begonnen, die ich später mal einen Text verwandeln will, damit der Stress wenigstens einen positiven Aspekt hatte. Ob letztlich eine Satire daraus wird oder eine Romanfigur sich in die Zahnärztin verliebt, wird sich zeigen.

Vor der Premiere Ihres vierten Stücks waren Sie sich nicht sicher, ob Sie etwas machen, dass den Leuten gefallen wird. Sind Sie diesmal optimistischer?
Nachdem ich «Strolch» seit März ein halbes Dutzend Mal ausprobiert habe, waren die Rückmeldungen so gut wie noch nie. Zumindest bilde ich mir das ein. Schon als ich den Text der Familie vorlas, sagte mein Sohn: «Papa, das ist dein Bester!»

Strolch notiert sich jeden Abend drei Dinge, die ihm an diesem Tag gelungen sind, manchmal auch nur zwei. Was haben Sie gestern aufgeschrieben?
Das ist schon so weit weg … Heute würde ich meinen tapferen Umgang mit dem Gesundheitswesen aufschreiben und, dass ich zuversichtlich in die Zukunft blickte, als ich vor diesem Interview eine Waschmaschine gestartet hatte, weil ich daran glaubte, dass ich die Wäsche nach meiner Rückkehr aufhängen könnte. (lacht)

Reinhold Hönle

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