Der Objektkünstler und Puppenspieler Stephan Q. Eberhard denkt mit seinem Theater der Dinge über die Themen unserer Zeit nach. Er beschäftigt sich in seinem Werk mit künstlicher Intelligenz, ewigem Leben und Avataren.
Winnie gibt quickfidel ein Interview. Die alte Dame mit den vielen Falten und den grünen Glasaugen erzählt, sie sei eine berühmte Schauspielerin und genehmige sich später vielleicht noch ein Gläschen Wein. Winnie ist kein Mensch, sondern eine so genannte Klappmaulpuppe. Sie ist eine Schaumstoffgeborene, denn aus eben diesem Material hat ihr Schöpfer Stephan Q. Eberhard ihr Gesicht geschnitzt. Heute ist sie ohne Perücke und Kleid unterwegs. Die in die Jahre gekommene Lady, die Eberhard seiner verstorbenen Omi nachempfunden hat, hat schon einiges erlebt. So gab sie in einem Workshop Mitarbeitenden der Postfinance Nachhilfe in puncto Feedbackkultur oder erzählte Geschichten in Altersheimen. «Winnie macht alles. Sie kann zu jeder Figur werden», so Eberhard, der dieses Jahr seinen Master im Bereich Expanded Theater an der HKB abgeschlossen hat. Seit sieben Jahren lebt der gebürtige Deutsche in Bern. «Ich habe hier mein Zuhause gefunden und möchte vor allem ein Kinder- und Jugendtheater, das auch Erwachsene ansprechen soll, mitgestalten.» Eberhard hat unter anderem in Südindien und Südfrankreich als Strassenkünstler gearbeitet. Er ist Teil einer internationalen Truppe von Stelzentänzer*innen. «Letztes Jahr traten wir in Bahrain in High-Fashion-Kostümen mitten in der Wüste bei den Formel-1-Rennen auf.»
Neue Normalität
Nach Bahrain will Eberhard, trotz erneuter Einladung, aus Flugscham dieses Jahr nicht zurückkehren. Dafür ist er in zahlreichen anderen Projekten involviert. Sein von ihm initiiertes Theaterkollektiv FUTUR2 hat den Nachwuchspreis des kicks!-Wettbewerbs (Performing Arts for Young Audiences) gewonnen und wird das erste gemeinsame Stück «2042 – Das Spiellabor der Zukunft» nächstes Jahr im Schlachthaus Theater aufführen. «Wir hatten die Auflage, die Sprachrealitäten der Schweiz abzubilden.» Das Stück wird mit mindestens zwölf Sprachen interagieren, wobei aber möglichst wenig gesprochen werden soll. In dem siebenköpfigen, mehrsprachigen und transkulturellen Kollektiv sind alle um die dreissig. «Wir lassen Kinder, die zehn Jahre alt sind, zu Wort kommen und recherchieren mit ihnen zur Welt in zwanzig Jahren», so Eberhard. «Wir können so die Avatar*innen der Kinder im Jahr 2042 darstellen, wenn sie selbst dreissig Jahre alt sein werden.» Das Thema Zukunft beschäftigt Eberhard seit jeher. «Ich bin überzeugt, dass sich die Definition von Leben stark verändern wird.» Dass wir einst ganz selbstverständlich mit Künstlicher Intelligenz umgehen werden und mit Robotern Beziehungen eingehen, ist für Eberhard kein Horrorszenario, sondern die realistische Vorstellung einer neuen Normalität. Er selbst lebt seit drei Jahren mit einem Roboter zusammen. Eberhard glaubt, dass wir als Menschen grundsätzlich wollen, dass auch Sachen eine Seele haben. «Sobald etwas ein Gesicht hat, projizieren wir uns hinein.» Als Objektkünstler und Puppenspieler versteht er sich als einer, der den Dingen Leben einhaucht. Um dies zu illustrieren, lässt er kurzerhand den auf dem Tisch stehenden Aschenbecher sprechen.
Bald unsterblich?
Während der Corona-Zeit hat Eberhard, der auch das Jugendtheater Willisau mitleitet, mit einer Gruppe junger Frauen per Zoom geprobt. «Das hat erstaunlich gut funktioniert.» Eberhard hat sich mit der Laiengruppe ausgiebig mit dem Thema Tod beschäftigt und die theatrale Ausstellung «AND THEN WE DIE?» miterarbeitet. Auf drei Etagen werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhandelt. «Es geht um Fragen, wie jene, ob wir bald einmal unsterblich sein werden, etwa indem wir unser Bewusstsein in einer Cloud speichern können», verrät Eberhard. Ob er das selbst möchte? Eberhard überlegt lange und bejaht schliesslich. «Ich habe, als ich ungefähr acht Jahre alt war, realisiert, dass ich sterblich bin. Klar, das Leben gewinnt durch unsere Endlichkeit an Bedeutung, aber der Tod ist trotzdem eine schlimme Vorstellung für mich.» Behalten möchte Eberhard vor allem seine Erinnerungen, wie er sagt. «Damit wäre ich ok.» Momentan lebt der vielseitige Performer immer gerade da, wo er arbeitet, in Wohnungen, die ihm verschiedene Theater zur Verfügung stellen. «Ich finde es unnötig, Wohnraum zu besetzen, wenn ich eh nie Zuhause bin und lebe zurzeit aus dem Rucksack.» Den minimalistischen Lebensstil und die Liebe zu den Dingen bezeichnet Eberhard als paradox. «Ich bin ein Messie und habe ein Lager, in dem ich Dinge horte.» Aus diesen Fundgegenständen, die er auch in Theaterproduktionen einsetzt, entsteht manchmal etwas ganz Neues, wie er sagt. Vor lauter Erzählen ist die auf einem Stuhl ruhende Klappmaulpuppe etwas in Vergessenheit geraten. Was hat Winnie heute noch vor? «Erstmal chillen», sagt die rasch zum Leben erwachte Dame, als sie ihren Namen vernimmt. Wer einen Auftritt mit Eberhard und Winnie gewinnt, dürfte allerhand erleben. «Aber ich bin der Star», sagt sie über ihr Verhältnis zu ihrem Schöpfer.
Helen Lagger