Mit «Bratsch – Ein Dorf macht Schule» verfilmte Regisseur Norbert Wiedmer ein spezielles Schulprojekt im Wallis. Der Berner, selbst einst Lehrer, verarbeitet damit eine Art Trauma.
Hätten Sie sich in Ihrer Kindheit einen Lehrer wie Damian Gsponer und ein Schulkonzept wie in Ihrem Film gewünscht?
Auf jeden Fall! Das war auch einer der Gründe, «Bratsch – Ein Dorf macht Schule» zu drehen. Zwar bin ich dank meiner nicht mangelnden Intelligenz und glücklicher Umstände relativ unbeschadet durch meine Schulzeit durchgekommen, habe jedoch – abgesehen von Erlebnissen mit Schulkameraden – keine guten Erinnerungen an sie. Ich litt unter dem autoritären Klima und Unterrichtsstil. Man sollte nicht entdecken, staunen und Fragen stellen, sondern nur Antworten auswendig lernen.
Wo in Bern sind Sie in die Schule gegangen?
Ein Jahr in der Lorraine, dann ins Spitalackerschulhaus und in die Viktoria-Sekundarschule.
War das Kino für Sie ein Fluchtort?
Nein, ich war kein Filmfreak, der sich verbotenerweise in dunklen Kinosälen herumtrieb. Bilder begannen mich zu faszinieren, als ich meinem Götti, der ein klassisches Fotogeschäft besass, wo man Filme entwickeln und Passfotos machen liess, im Labor helfen durfte. Ich habe jedoch nie von einer Karriere als Filmemacher geträumt. Die hat sich so ergeben.
Wie kam es dazu?
Ich habe das Lehrerseminar gemacht, weil es mir erlaubte, relativ schnell finanziell unabhängig zu werden und von zuhause ausziehen zu können. Mein erster Lohn belief sich auf etwas mehr als 2000 Franken, was 1973 für einen Zwanzigjährigen schon ein schöner Batzen war. Ich unterrichtete ein paar Jahre, studierte in Fribourg und Paris, bevor ich die Hochschule für Film und Fernsehen in München besuchte, um mich in Sachen Schulfernsehen weiterzubilden. Mein erster Film, der dort entstanden ist, eröffnete Optionen in Deutschland, doch führte mich die Liebe zurück in die Schweiz.
Reizte Sie immer nur die Arbeit hinter der Kamera?
Ja, ich habe Bruno Ganz sehr gut verstanden, wenn er sagte, sein grösstes Problem wäre es, sich nachher im Kino ansehen zu müssen, was er vorher gespielt hat. Daher drängte ich mich nie in meine Dokumentarfilme hinein, weder ins Bild noch auf die Tonspur. Ich interessierte mich immer für die Geschichten, welche die Protagonisten zu erzählen haben.
Wie sind Sie auf dieses spezielle Schulprojekt im Oberwalliser Dorf Bratsch gestossen?
Ich hatte schon ein paar Tage in der von Montessori inspirierten Schule in der Villa Monte in Lachen SZ gedreht, als die Leiterin einen Rückzieher machte. Der Zufall wollte es, dass ich ein Jahr später im SRF1-Regionaljournal einen Beitrag über eine fortschrittliche Schule hörte, die ein halbes Jahr später in einem Dorf oberhalb von Gampel eröffnet werden sollte.
War es für Sie schwierig, das Einverständnis der Beteiligten zu bekommen?
Ich überliess dies dem verantwortlichen Pädagogen Damian Gsponer. Er besass bereits den Goodwill der Eltern, weil diese froh waren, dass ihre Kinder, die in öffentlichen Schulen gelitten hatten, in seinem Konzept, das selbstbestimmtes, druckfreies und praxisnahes Lernen ermöglichen will, eine neue Chance bekamen.
Wie sah Ihr filmisches Konzept aus?
Ich wollte die Entwicklung dieses Schulmodells mehrere Jahre lang verfolgen. Wir starteten am ersten Schultag 2016 und es wurden schliesslich 54 Drehtage in genau sechs Jahren. Anfänglich waren es 17 Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, inzwischen werden bereits über 70 Kinder angeleitet und Wartelisten geführt. Die vier bis fünf Kinder, die im Fokus des Films stehen, kristallisierten sich mit der Zeit heraus. Das ist typisch für meine Arbeitsweise, denn ich bin offen und nicht auf der Suche nach Beweisen für eine vorgefasste Meinung.
Wir war es für Sie, erstmals Kinder als Protagonisten zu haben?
Das machte keinen nennenswerten Unterschied. Es gilt bei unserer Arbeit immer, das Vertrauen der Porträtierten zu gewinnen und für sie, nachdem sie sich an Kamera und Mikrofon gewöhnt haben, möglichst unsichtbar zu werden.
Denken Sie, dass Bratsch auch auf nationaler Ebene Schule machen kann?
Die «moderne» Schule wurde während der Industrialisierung gegründet, um Arbeitskräfte heranzuziehen, die vor 150 Jahren den Bedürfnissen der Wirtschaft entsprachen. Heute noch geht es in erster Linie um Leistung, während die wichtigsten Komponenten des Menschwerdens meist zu wenig gefördert werden. Nicht zufällig zitiere ich auf dem Plakat Konfuzius: «Was du mir sagst, vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.» Ich hoffe, dieser Film wird zur Diskussion über die nötige Neuausrichtung beitragen.
Was hat Sie zu «Meisterträume – Eine Berner Fussballgeschichte» inspiriert, der nun in der Retrospektive zu Ihrem 70. Geburtstag im Kino Rex wiederzusehen ist?
Wer im Breitenrain aufwuchs, ging ins Wankdorfstadion. Ich spielte bei den YB-Junioren und war einer der Besseren. Weil Fussball am Lehrerseminar verpönt war, habe ich jedoch zum Handball gewechselt, bevor ich nach meiner Rückkehr aus München nochmals als Spieler und Schiedsrichter im Fussball aktiv war. Wie mein Berner Co-Regisseur Enrique Ros träumte ich davon, dass YB in den Nullerjahren wieder einmal Meister würde. Als der Stade-de-Suisse-Komplex geplant wurde, wollten wir einen Film über die Vermischung von Sport und Kommerz machen. Aber dann kam alles anders.
Woran lag das?
Als YB 2009 nach der Vorrunde zehn Punkte Vorsprung auf Basel hatte, fragte uns der damalige CEO Stefan Niedermaier, ob wir den YB-Teil nicht vorziehen und so die vermeintliche Meistersaison dokumentieren könnten. Unter der Bedingung, dass der Klub die Kosten übernahm und wir zu allen Bereichen Zugang bekamen, sagten wir zu. Obwohl es nicht zum Titel reichte, lief der Film sieben Wochen im Westside und lockte 7000 Besucher an.
Was wünschen Sie sich zu Ihrem 70. Geburtstag, nachdem der YB-Meistertraum inzwischen schon viermal in Erfüllung gegangen ist?
Gute Gesundheit, denn alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Ich wollte auch nie wirklich alt werden. Auf meinem Bildschirmschoner steht seit Jahren das Zitat des amerikanischen Lyrikers James Russell Lowell: «Life is a sheet of paper white, whereon each of us may write his word or two, and then comes night. » Doch nun freue ich mich erst mal auf die nächsten Wochen, wo ich anlässlich der Retro-
spektive meine alten Filme im Kino und befreundete Filmschaffende wiedersehen kann.
Reinhold Hönle
Dokumentarfilmer Norbert Wiedmer wurde am 18. Januar 1953 in Bern geboren. Nach der Lehrerausbildung und dem Besuch der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen gewann er 1987 mit «Alpenglühen» den ersten von insgesamt sieben Filmpreisen des Kantons Bern. Seine grössten Erfolge waren «Schlagen und Abtun» (Schweizer Filmpreis), «Behind Me – Bruno Ganz» und «Meisterträume – Eine Berner Fussballgeschichte». Sein neuer und letzter Film «Bratsch – Ein Dorf macht Schule» läuft ab 26. Januar im Berner Kino Rex.