Der Berner Jared Muralt (39) hat mit seiner Comicserie «The Fall» den Nagel auf den Kopf getroffen: Er schildert darin den Ausnahmezustand während einer Pandemie.
Jared Muralt war wohl selbst vom grossen Medieninteresse über-rascht, das ihm im März vergangenen Jahres entgegenschlug. Seine Comicserie «The Fall», deren erster Band er 2016 zu zeichnen begann, schien plötzlich Realität geworden zu sein: «Berner zeichnet Schweiz in der Pandemie» titelte der «Blick». Das Schweizer Fernsehen klopfte bei ihm an und realisierte einen Bei-trag für «10 vor 10». Die Bestellungen häuften sich, so dass Muralt in seinem Atelier Pakete stapelte. «Die Post war während des ersten Lock-downs überlastet. So erledigte ich manche Botengänge mit dem Velo gleich selbst», so der Zeichner.
Das Genre der Dystopie – es geht dabei um eine in der Zukunft spielende Erzählung mit negativem Ausgang – hat Muralt schon immer fasziniert. «Als ich meinen apoka-lyptischen Comic zu zeichnen anfing, wütete gerade Ebola. Ich habe mich gefragt, wie es wäre, wenn so etwas bei uns ausbräche.» In «The Fall» ist die Rede von einer tödlichen Sommergrippe, die nicht näher bestimmt wird. Ein alleinerziehender Vater – die Mutter wurde vom Virus dahingerafft – kämpft sich mit seinen beiden Kindern Sophia und Max durch eine Welt am Rande des Ruins. Die Geschichte beginnt in Bern, wobei einige Orte – etwa der Falkenplatz – im Comic deutlich zu erkennen sind. Dieses Lokalkolorit hat für Bernerinnen und Berner ei-nen besonderen Reiz. «Manche sind in die Buchhandlung gegangen und haben nach dem Comic, der in Bern spielt, verlangt», so Muralt.
Auch im Ausland sorgt «The Fall» für Furore. Da die Serie im bekannten US-amerikanischen Comic-Verlag «Image Comics» vertrieben wird, lesen auch New Yorker, wie Bern vor die Hunde geht. Muralt lässt nichts aus. Er schickt seine Figuren durch die Hölle. «Das Virus in meinem Comic ist um einiges tödlicher als Corona.» Ausserdem geht der Pandemie eine starke Wirtschaftskrise voraus.
Krankheit hat Muralt nur am Rand interessiert. Es ist ihm um das Porträt einer Gesellschaft im Ausnahmezustand gegangen und wie diese damit umgeht. «Das Virus habe ich gewählt, weil es laut Experten die plausibelste Gefahr für einen Kollaps ist.» Besonders fies: Die Impfung, die in «The Fall» gefunden wird, hilft nicht gegen Mutationen. Dass ausserdemdie Klimakrise in vollem Gange ist, wird im Comic» an dürren Gärten und brutalen Temperaturschwankungen ersichtlich.
Stoisch in den Abgrund
Lernen wir etwas aus der Pandemie? Muralt, der mit seiner Partnerin und zwei vierjährigen Zwillingsbuben in Muri bei Bern lebt, ist skeptisch. «Wie stoisch die Menschen auf Abgründe zugehen, grenzt an eine Komödie.» Diesen März erscheint Kapitel sieben, der erste Teil des dritten Bandes. Das Cover lässt sofort an Heidi denken. Da sitzt ein Mädchen mit einem süssen Zicklein auf einer Alm. Doch neben ihr im Gras liegt nicht der Geissenpeter, sondern ein Sturmgewehr. Aufatmen können die Figuren also auch in der Fortsetzung nicht. «Es wird darum gehen, wie aus normalen Stadtkindern Überlebenskünstler werden», verrät Muralt. Dabei dürfen auch die marodierenden, faschistischen Banden aus dem ersten Band nicht fehlen. «Die gibt es immer», sagt Muralt lakonisch.
Fans der Serie gibt es mittlerweile auch in Polen, Holland, Spanien und Frankreich, wo Muralts Serie «La Chute» heisst. In Belgien hat er 2020 den sogenannten Atomium-Preis gewonnen. Das ist für einen Schweizer Künstler eine grosse Ehre, schliesslich gilt Brüssel als Hauptstadt der neunten Kunst, dem Comic.
Muralt, der eine Dekorationslehre abgeschlossen hat, ist Auto-didakt. Sein Stil ist durch die typisch belgisch-französische «ligne claire» beeinflusst. Damit seine Geschichten so realistisch wie möglich daherkommen, recherchiert er viel. Mithilfe von Google-Street-View oder beim Spazieren und Fotografieren hält er Brücken oder Plätze, die später in seinem Comic auftauchen, fest. «Ich brauche eine ganze Woche, um eine Seite inklusive dem Kolorieren fertigzustellen.»
Das Feedback seiner Leserinnen und Leser motiviert zum Weitermachen. «Schön, meine Freunde aus dem ersten Band wiederzutreffen», hat ihm kürzlich ein Amerikaner geschrieben.
Helen Lagger