Martinbieriporträtklassisch Neu

Mal eine ganz andere Perspektive auf alles

Beim Spazieren mit dem Lyriker Martin Bieri werden Autobahnbrücken zu gotischen Kathedralen und Abflussrohre zu Feldstechern der Sehnsucht. Ausserdem begegnen uns ein Fuchs und eine grimmige Katze.

«In den Rändern liegt die grösste Schärfe», heisst es in einem Gedicht von Martin Bieri. Am Stadtrand, in der Nähe vom Wankdorf, findet denn auch unser Treffen mit dem Lyriker, Theaterschaffenden und Journalisten statt. Bieri hat seine Doktorarbeit an der Universität Bern zu «zeitgenössischem Theater und Landschaftstheorie» geschrieben.
Als Theaterschaffender produzierte er mit der freien Theatertruppe Schauplatz International Stücke, bei denen die Landschaft eine Hauptrolle innehatte. So sassen die Zuschauer:innen auch mal in einem Zug, der durch das Ruhgebiet fuhr, während das Schauspiel im Aussenraum stattfand.
Der jeweilige «Geist eines Ortes» – der sich durch Historie und Stimmungen ergibt – fasziniert den Autor. Bei einem Kaffee im Restaurant Freibank kommt er ins Sinnieren: «Auf diesem Gelände ist vor zwanzig Jahren ein Schlachthof gewesen, im heutigen Restaurant wurde Fleisch verkauft – wie lange dauert es, bis das niemand mehr weiss?» Solche sich verändernden Lokalitäten regen die Fantasie des Dichters an. Für seinen zweiten Lyrikband «Unentdecktes Vorkommen» (2021) erhielt er soeben den mit 10 000 Franken dotierten Literaturpreis des Kantons Bern.

Für die Presse sind es Unorte
Bieri ist sich bewusst, dass Lyrik nur ein kleines Publikum anspricht. «Das rechnet sich nicht», gibt er unumwunden zu. Sein erstes Kapitel widmet der Dichter Onkalo, einem Endlager für hochradioaktive Abfälle, das 2120 geschlossen und für die nächsten 100 000 Jahre nicht mehr geöffnet werden soll. «Mich fasziniert das Paradoxe an diesem Bau. Das Lager muss für 100 000 Jahre halten, aber man sieht es nicht, da es unter dem Boden liegt», so der Autor. «Onkalo war kein Ort», heisst es in einem Gedicht. Von sogenannten Unorten schrieb die Presse oft, wenn es um Bieris Dichtkunst ging. «Ich selbst würde diesen Begriff nicht benutzen, aber ich schaue gerne dorthin, wo man nichts vermutet.»
Dabei ist Bieris Blick stets ein ästhetischer. Jedoch findet er Schönheit in Dingen, die nicht auf den ersten Blick schön sind: in menschgeschaffenen Fiktionen etwa, wie der künstlich nachgebauten Höhle von Lascaux, der er ebenfalls ein ganzes Kapitel widmet. Das Original ist für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. «Plausibler ist das Wahre nicht», schreibt Bieri, der in der Fälschung nicht minder Erhabenheit findet.
Für den Fototermin schlägt Bieri einen Spaziergang zu einer Autobahnbrücke vor. Es geht einen mit Wildwuchs flankierten, schmalen Pfad den Hang herunter, bis das monumentale Bauwerk sich offenbart. «Man meint, man stehe in einer gotischen Kathedrale» sagt der Autor begeistert. Tatsächlich hat der Ort durch die starken Lichteinfälle etwas Sakrales. Nur gibt es hier statt Fresken oder Heiligenbilder jede Menge Graffiti: Schriftzüge, ein gelbes Auto und eine äusserst grimmige Katze.
Bieri spricht gerade von seiner Lust an Koinzidenzen – damit ist ein zeitliches und räumliches Zusammenfallen von Ereignissen gemeint –, als ein Fuchs aus dem Unterholz springt. Zufall? Durch die Augen des Poeten erscheint plötzlich sogar ein Abflussrohr in neuem Licht. Als wäre es ein Fernrohr, blickt Bieri in die Tiefe statt in die Ferne, ein Perspektivenwechsel ganz nach seinem Geschmack.

«Es geht mir nicht darum, Wissen zu demonstrieren»
Kritiker warfen Bieri schon Bildungsdünkel vor, da seine Texte sich nur mit einem Wörterbuch in der Hand erschliessen liessen. «Lyrik muss nicht auf Anhieb zugänglich sein», winkt Bieri ab. «Es geht mir nicht darum, Wissen zu demonstrieren, sondern um Rhythmus und Vielschichtigkeit.» In seinen journalistischen Texten – Bieri schreibt Kunstkritiken für die Zeitung «Der Bund» – schreibt er durchaus leserfreundlich. «Es ist alles eine Frage des Genres.»
Für seine Theaterstücke dient ihm oft bestehende Literatur als Basis. Gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin Ariane von Graffenried, schrieb er für Bühnen Bern das Stück «Das Ende von Schilda», eine aktualisierte Fassung über die Dummheit der Schildbürger.
«Roaring», Bieris neustes Stück, das im Dezember im Schlachthaustheater uraufgeführt wird, erzählt von der historischen Figur Mary Frith, einer trans Person und Dieb:in, die im 17. Jahrhundert Dinge erlebte und sagte, die bis heute kontrovers bleiben. Als jemand, der zwei Schatten wirft, wurde dieser zwischen den Geschlechtern zerrissene Mensch beschrieben. Aus der Komödie von 1610, die sich diesem Leben annahm, hat Bieri ein Solo gemacht. Das Marginale, Nebenschauplätze und das Vom-Weg-Abkommen sind die Inspirationsquellen dieses eigenwilligen Autors.

Helen Lagger

Weitere Beiträge

Weitere Beiträge