Wir haben Müslüm beim «Weltuntergang» im Naturhistorischen Museum Bern getroffen. Semih Yavsaner, der Schöpfer der kultigen Kunstfigur, hat mit uns über seine Kindheit, Türkenklischees und das Mysterium – pardon Müsteriüm – namens Leben gesprochen.
Hellblauer Seidenanzug und eine brandneue Perücke – Müslüm hat sich in Schale geworfen, um für uns beim «Weltuntergang» – einer Installation aus Glühbirnen und Spiegeln – im Naturhistorischen Museum zu posieren. Mit Monobraue, Muttermal und Schnauz, an jenen drei Merkmalen, an denen man die Kultfigur sofort erkennt, turnt und grimassiert Müslüm vor der Kamera.
Er platziert sich so, dass ein mehrfach gespiegelter Müslüm einen Kreis bildet. «Gib dir selbst die Hand – das passt doch zur momentanen Situation», meint er. Er sehe aus wie ein Sektenguru, lassen wir ihn wissen. «Dr Oscho hetts oscho gmacht», dichtet er spontan. Wortakrobatik à la Müslüm.
Auch in seinem aktuellen Programm «MÜsteriÜM – eine dramatürkische Odysee» mit dem er im La Cappella bereits acht Mal vor vollen Rängen aufgetreten ist, gibt Müslüm eine Weisheit nach der anderen von sich. Unterbrochen werden seine Bonmots und Frotzeleien durch Lieder, die der Gitarrist Raphael Jakob musikalisch begleitet. Das Spektrum reicht von Michael Jackson Verballhornungen bis zu «Det äne am Bärgli». Wo gerade alle von der Spaltung in der Gesellschaft sprechen, spricht Müslüm davon, dass wir alle eins sind. «Das Leben ist ein Müsteriüm, ein unendliches Imperium und die Liebe ist das einzige Kriterium», so der Tenor.
In Anschluss an das Fotoshooting, sprechen wir mit Semih Yavsaner, dem Schöpfer dieser Figur, welche Kinder wie Intellektuelle begeistert. Der Perücke hat er sich entledigt, abgeschminkt wird später. «Ich kann sehr gut zwischen mir und meiner Kunstfigur unterscheiden», stellt der Entertainer klar. «Ich bin introvertierter als Müslüm, posaune nicht immer alles gleich raus.» Die Sprechweise von Müslüm ist direkt von Yavsaners Vater, einem Gastarbeiter, der in den Siebzigerjahren nach Bern kam, inspiriert. «Natürlich musste mein Vater lachen, als er realisierte, dass ich seinen Slang kopiere», so der Comedian. «Eine Künstlerkarriere einzuschlagen war allerdings in meiner ‹Community› nicht vorgesehen.»
Süpervitamin statt Kokain
Wie weit es ihr Sohn als Müslüm gebracht hatte, wurde den Eltern von Yavsaner, die heute wieder in der Südtürkei leben, spätestens dann bewusst als sie am Kiosk die Schlagzeile «Müslüm erobert die Schweiz» entdeckten und als der einstige Stadtpräsident Alex Tschäppät ihnen nach einer Premiere persönlich gratulierte. «Ihr Stolz war riesig», so der Entertainer, der heute selbst zweifacher Vater ist und sich vor zwei Jahren einbürgern liess.
Yavsaner ist im Breitfeld-Quartier aufgewachsen und hielt nicht viel von der Schule. «Zu theoretisch, zu wenig zu entdecken», fasst er zusammen. Ressentiments hat der Schulabbrecher keine. «Alles ist doch perfekt jetzt.» Tatsächlich ist der Weg des Entertainers beachtlich.
Angefangen hat alles mit Telefonscherzen, die Müslüm 2008 Ahnungslosen im Rahmen einer Sendung auf Radio Rabe spielte. So musste etwa ein Pilzkontrolleur ihm Tipps geben, weil angeblich sein bester Freund Drogenpilze in das fürs Quartierfest bestimmt Risotto gemixt hatte. Die Reaktionen der Veräppelten entlarvten oft eine gewisse Borniertheit, Erwartungen oder Vorurteile gegenüber dem von Yavsaner entworfenen Klischeetürken, der schnell nervös wird, aber ein grosses Herz hat.
Müslüm ist heute so bekannt, dass die Scherze nicht mehr funktionieren würden und hat sich längst zum «Süperimmigrant» entwickelt, der mit seinen Programmen ganze Säle füllt. Jüngst wurde er gar von der Hochschule der Künste als Gastreferent eingeladen, um im Rahmen eines Forschungsprojekte zu fiktiven Identitäten über seine «Kunstfigur» zu sprechen. Mit Müslüm-TV hatte Yavsaner eine eigene Show auf SRF1, sein erstes Album «Süpervitamin» (2012) wurde zum Riesenhit. «Es war ein Wurf», sagt Yasavner über das millionenfach geklickte Video, in dem Doktor Müslüm in einem Spital «Cheine Kokain und cheine Nikotin», sondern dank «Süpervitamin» Friede, Freude, Eierkuchen verbreitet.
In seinem zweiten Album von 2015 entwarf er mit «Apochalüpt» einen Gegenspieler zu seiner stets fröhlichen Figur und trat plötzlich mit blonder Perücke auf. Im aktuellen Programm steht wieder Müslüm wie man ihn kennt und liebt auf der Bühne. «Das Müsteriüm ist chain Velo. Man kann es nicht lüften», lässt er uns wissen. Die Tournee wurde coronabedingt unterbrochen und geht nun in die nächste Runde. «Das Stück passt hervorragend in unsere Zeit», so Yavsaner. Das Wort Corona kommt allerdings nicht vor. «Das wäre unoriginell», so der Entertainer. «Die Bühne ist zum Glück ein Ort, wo eine Gegenwelt jenseits der Umstände entstehen kann, wo die Kraft der Kunst wirkt.»
Helen Lagger