Gwendolyn Masin ist die Gründerin des Klassikfestivals GAIA. Dieses Jahr steht das Thema Familie im Fokus. Masin selbst stammt aus einer Musikerdynastie und spielt auf einer über 250 Jahre alten Geige.
Gwendolyn Masin erinnert sich daran, wie jemand einen Stein durch das Fenster ihres Elternhauses warf. Es war während der Zeit der Apartheid in Südafrika. «Meine Mutter führte eine private Musikschule für Kinder jeglicher Herkunft. Das passte offensichtlich nicht allen.» Die in Amsterdam geborene Musikerin lebte von ihrem fünften bis zum zehnten Lebensjahr in Kapstadt und empfand in dieser Zeit die Familie besonders stark als ein «Wir», das gegen Widrigkeiten zusammenhält. «Familie – die Wiege musikalischen Genies» lautet nun das Thema der 14. Ausgabe von Masins Musikfestival GAIA, das in Bern, am Thunersee und in Thun stattfindet. Die Musikerin und Kunstwissenschaftlerin stammt aus einer Musik-Dynastie und gehört bereits zur vierten Generation, die professionell Musik macht. Die Geige, die sie zum Fototermin mitbringt, hat ihr Vater, seinerseits ein Violinist, der auch am Festival mitwirkt, ihr vermacht. «Sie kommt aus Florenz und ist über 250 Jahre alt», sagt Masin über das geliebte Instrument, das sehr anspruchsvoll zum Spielen sei. Das Festival gründete Masin 2006 in Stuttgart mit dem Ziel, klassische Musik zu «erden», sprich an die Leute zu bringen. «GAIA» steht in der griechischen Mythologie denn auch für die Personifikation der Erde. Jedes Jahr wird ein bestimmtes Thema ausgelotet, jedes Jahr spielt Masin in zahlreichen Formationen selbst mit. «Ich habe im Alter von drei Jahren mit Klavier angefangen und mit fünf mit dem Geigenspiel.» Die Musikerin ist zweisprachig aufgewachsen, hat sowohl Holländisch wie Ungarisch gesprochen. Englisch und Deutsch kamen später dazu. «Meine erste Sprache war jedoch die Musik», so Masin. Die mit einem Nichtmusiker verheiratete Mutter, die einen zweieinhalbjährigen Sohn hat, sieht nun, wie stark auch ihr Kind auf Klänge reagiert. «Er sang, bevor er sprechen konnte.»
Festivalruf reicht bis in die USA
Masin hat aufgrund ihrer turbulenten Familiengeschichte ein besonderes Bewusstsein für das, was in der Welt passiert. Ihre Mutter ist als Jugendliche aus Ungarn geflüchtet, danach lebte die Familie mit Südafrika und Irland in Ländern, wo ständige Unruhe herrschte. «Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns bewusst sind, wie privilegiert wir sind in unserer friedvollen Gesellschaft.» Kann Musik etwas zum gegenseitigen Verständnis beitragen? Masin ist davon überzeugt und setzt in ihrem Festivalprogramm auf eine grosse Diversität, sei es punkto Alter, Geschlecht oder Herkunft. «Wir leben in einer Zeit der Dringlichkeit. Kunst ist kein Luxus, sondern ein Spiegel unserer Zeit.» Nach Bern kam die Musikerin, weil das hiesige Konservatorium einen weltweiten Ruf hat. «Es gab und gibt Professoren von Weltrang, man kann von einem Geigen-Mekka sprechen.» Ihr in Deutschland gegründetes Festival wollte sie in die Schweiz holen, weil sie hier ideale Spielstätten wie das Schloss Oberhofen oder die Kirche in Scherzligen und Hilterfingen fand. «Es gibt in dieser Region zahlreiche romanische Kirchen und Schlösser mit wunderbarer Akustik.» Das Festival hat sich längst etabliert. Der Ruf reicht bis in die USA. «Die New York Public Library sammelt unser Programmheft», sagt Masin stolz.
Mendelssohns Schwester
«Wer sich mit dem Thema Familie beschäftigt, beschäftigt sich automatisch mit der Rolle der Frau», findet Masin. Ähnlich wie in der Literatur oder der bildenden Kunst, führten auch viele Komponistinnen lange Zeit ein Schattendasein oder gaben ihre Musik gar unter einem männlichen Pseudonym heraus. «Ich mache mir die Mühe, weibliche Komponistinnen zu zeigen.» So sind am GAIA-Festival auch Schweizer Erstaufführungen von wenig bekannten Frauen dabei. Dass Felix Mendelssohn (1809-1847) mit Fanny Mendelssohn (1805-1847) eine Schwester hatte, die ebenfalls komponierte, geht oft unter. «Für ihre Zeit hatte Fanny viel Unterstützung seitens ihrer Familie und wurde genau wie ihr Bruder gefördert», so Masin. Was ihr verwehrt blieb, war, dass man ihre Kompositionen verlegte. Mit «Fanny und Felix» präsentiert Masin nun die Geschwister Mendelssohn gemeinsam, und zwar mit Stücken für Klavier und Geige. Eine weitere Erstaufführung wird von Otilie Sukovà (1878-1905), der Tochter von Antonin Dvoràk (1841- 1904), in Form dreier Klavierstücke zu hören sein. Masin stellt das Werk der Komponistin jenem ihres Vaters und Ehemannes gegenüber. Am Eröffnungsabend steht mit «Verklärte Nacht» von Arnold Schönberg (1874 -1951) ein von einem Gedicht inspiriertes Stück auf dem Programm. Es geht um eine Frau, die durch den Wald geht und über ihre unsichere, familiäre Zukunft nachdenkt. Wer das Gedicht kenne, könne die nagende Unsicherheit der Protagonistin in der Musik widerspiegelt hören, erklärt Masin. «Am Ende geht die Heldin gestärkt aus dem Wald hinaus und findet mit ihrem Partner eine sehr moderne Lösung.»
Helen Lagger