Nina Stadler musste sich aus gesundheitlichen Gründen als Tänzerin zurückziehen. Nun kehrt sie dorthin zurück, wo sie hingehört: auf die Bühnen der freien Szene.
Nina Stadler sitzt vor dem Eingang des Ballsaals, ihrer 2011 eigens gegründeten Tanzwerkstatt. Der Name lässt an lange Roben, an Cinderella oder an amerikanische Abschlussfeiern denken. Dabei wird hier in urbaner Kleidung zeitgenössisch getanzt, wie Stadler erklärt. «Im Tutu hat hier noch niemand getanzt.» Stadler unterrichtet Profis und angehende Tänzerinnen und Tänzer in ihrem eigenen Stil. «Es handelt sich um eine Mischung aus somatischen und akrobatischen Elementen, wobei die Atmung und die Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielen», erklärt sie. Sie selbst hat mit klassischem Ballett angefangen. «Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mich mit Break Dancern in einer Turnhalle getroffen, um zu tanzen. Ich war das Balletthäsli», erinnert sie sich lachend. Stadler ist die Tochter des bekannten Immunologen Beda Stadler. Mit ihrem Mann, dem Schauspieler Dominik Gysin und den beiden Kindern, lebt sie mit ihren Eltern in einer Teilzeit-WG, im Generationenhaus. «Es ist eine Riesenhilfe, die pensionierten Eltern, die häufig auf die Kinder schauen können, um uns zu haben.» Auf den Vater, der mit gewagten Thesen häufig in den Medien steht, angesprochen zu werden, stört sie nicht. «Wir sind uns nicht immer einig, aber er ist für mich mit seiner Art, auf die Meinung anderer zu pfeifen, ein Vorbild.» Vom Wesen her seien sie sich ähnlich. «Wir sind beide kreative Köpfe und ein wenig eigenbrötlerisch.»
Erste Choreografie mit 20
Stadler, die ihre frühe Kindheit in Washington D.C. verbracht hat, ging nach langjähriger Ballettausbildung in Bern und Prag nach New York, um an der renommierten Tanzschule Alvin Ailey zu studieren. Schon früh trat sie auch als Choreografin in Erscheinung. «Mit gerade einmal zwanzig Jahren konnte ich in Basel eine Oper choreografieren.» In Bern wurde sie von der Tanzpädagogin Ivana Halamka unterstützt. «Sie war wie eine Mutterfigur für mich.» Schliesslich sollte Stadler deren Tanzschule übernehmen. Doch sie wollte nicht. «Es gab so viele Ideen und Bilder, die ich verwirklichen wollte. Eine Schule zu leiten, hätte mich davon abgehalten.» Stadler ging viel aus, choreografierte an den damals angesagten Sweet & Sexy-Partys Animationen und machte ihre eigenen Stücke. 2010 gründete sie gemeinsam mit Annalena Fröhlich die Compagnie DeROTHFILS und realisierte aufwändige Bühnenproduktionen und Filme. «Wir haben in unseren Stücken auch gesellschaftliche Abgründe verhandelt. Ich dachte immer, ich sei nicht politisch, bis ich gemerkt habe, dass alles politisch ist.» Stadler verausgabte sich bis zur Erschöpfung in mehreren Produktionen gleichzeitig und wurde schliesslich nach ihrem dritten Bandscheibenvorfall aus dem Verkehr gezogen. «Ich musste mich 2016 von der Bühne verabschieden», erklärt sie. «Ich hatte ein Kind bekommen, das ich nicht tragen durfte. Das war heftig», erinnert sie sich. Als weltbewegend beschreibt sie das Ereignis, Mutter geworden zu sein. Sie konnte noch unterrichten, musste allerdings einen Kragen tragen und erhielt Kortisonspritzen. «Ich brauchte Distanz von der Szene.» Der Produktionsdruck war zu gross geworden.
Mit dem Tod konfrontiert
Die Schicksalsschläge häuften sich. Ihr Bruder, der bekannte Illustrator Kornel Stadler, erkrankte an einer seltenen Krebsart. Nina konnte ihm mit einer Knochenmarkspende das Leben retten. «Ein Wunder», wie sie sagt. Auch der Vater erkrankte schwer und lag eine Zeitlang im Koma. «Ich wurde in den letzten Jahren sehr stark mit Leben und Tod konfrontiert.» Doch nun geht es wieder bergauf, Stadler kehrt auf die Bühne zurück. Sie wird unter anderem im Stück «Force of Attraction» unter der Regie von Cynthia Gonzales auf der Bühne des Schlachthaus Theaters (Premiere: 12.11.) zu sehen sein. Im Frühling 2022 tanzt sie im Stück «MUETER» im Tojo Theater. Die Künstlerinnen thematisieren die Mutterschaft; ein Thema, das häufig diskutiert wird, jedoch selten in der Kunst verhandelt wird, wie Stadler findet. «Ich glaube, dass Mutterschaft zu wenig ein Politikum ist. Man könnte auch sagen ‹Elternschaft›», fügt sie, die sich mit ihrem Mann die Betreuung der Kinder teilt, hinzu. «In unserem Stück geht es um Wertschätzung und Selbstbewusstsein, das Mütter dringend benötigen. Und für mich selbst geht es um ein Comeback.»
Helen Lagger