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Robert Walsers Zauber ist noch immer greifbar

Reto Sorg leitet das Robert Walser Zentrum in Bern. Im Gespräch erzählt er, was ihn an dem grossen Schweizer Schriftsteller fasziniert und wie sich ein Topbanker auf der Suche nach Inspiration an ihn wandte.

Es ist ein geradezu ikonisches Bild: Der Schriftsteller Robert Walser (1878-1956) liegt tot im Schnee. Der grosse Schweizer Autor, der am Ende seines Lebens beinahe in Vergessenheit geriet, ist auf einem Spaziergang gestorben. «Der Spaziergang» heisst auch seine Erzählung von 1917, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und bis heute Menschen auf der ganzen Welt zum Flanieren anregt. Eine neu kommentierte Ausgabe ist soeben bei Suhrkamp erschienen, wie Reto Sorg, Leiter des Robert Walser-Zentrums in Bern, erklärt. Doch in der riesigen Bibliothek im Zentrum an der Marktgasse befinden sich auch japanische oder koreanische Übersetzungen. «Ich habe den ‹Spaziergang› sicher schon zwanzig Mal gelesen», verrät der studierte Germanist, der nebst der Leitung des Zentrums auch als Dozent für Neuere Deutschere Literatur an der Universität Lausanne tätig ist. «Walser hat mehrfach über Schriftsteller geschrieben, die im Schnee starben. Dass er schliesslich so gestorben ist, verblüfft sogar die grössten Rationalisten», meint Sorg. Walser ist zwar in Biel geboren und in Herisau gestorben – doch in Bern erlebte er seine produktivste Schaffensphase. Hier entstanden seine legendären Mikrogramme und der Roman «Der Räuber». Der von Angstzuständen und inneren Stimmen geplagte Autor ist auch der berühmteste Patient der Heilanstalt Waldau. «Dass Walser psychische Probleme hatte, ist unbestritten», sagt Sorg dazu. Doch die Diagnose Schizophrenie sei mit Vorsicht zu geniessen. «Die Krankheit war damals gerade neu entdeckt worden und es war in Mode, sie zu diagnostizieren.» Laut Sorg würde Walser heute wohl nicht mehr interniert werden.

Von Langstrumpf zu Walser

Sorg liest, seit er denken kann. «Ich habe schon als Kind gerne gelesen, sei es Pippi Langstrumpf oder die Rote Zora.» Als er, als gerade einmal Fünfzehnjähriger, Walser für sich entdeckte, dachte er: «Da schreibt einer über mich.» Eine einzig richtige Lesart von Walser findet Sorg problematisch. Er selbst lese Walser heute reflektierter als früher, aber niemals zynisch, wie er betont. «Er ist und bleibt für mich ein weltbedeutender Autor.» Bis heute entdeckt Sorg neue Aspekte im Werk Walsers. «Seine Literatur ist so schillernd, dass einem immer wieder etwas anderes ins Auge sticht.» Mit Walser teilt Sorg die Liebe zum Spazieren. Und, genau wie der Autor, sieht er im Spazieren eine Parallele zum Schreiben. «Wer marschiert, hält sich an die Route, wenn du spazierst, bleibt vieles offen.» In seiner Rolle als Dozent empfindet Sorg es als Privileg, über Walser zu forschen und von der Schwarmintelligenz seiner Studierenden zu profitieren. In seinem nächsten Seminar wird er sich mit Walsers eigenwilligen Bildbeschreibungen befassen. «Walser hatte durch seinen Bruder, den Maler und Buchillustrator Karl Walser, einen engen Bezug zur bildenden Kunst.» Er ging als junger Mann nach Berlin und verkehrte in der Bohème. Sorg selbst hat in Berlin studiert und erlebte die dortige Umbruchszeit nach dem Mauerfall. «Die Stadt hat mich in ihrer Rauheit und Grösse umgehauen.» An Bern liebt der gebürtige St. Galler das Traditionsbewusstsein und die Gastfreundschaft der Menschen. «Heute könnte ich als Taxifahrer oder Velokurier arbeiten, so gut kenne ich die Stadt», lacht Sorg, der mit seiner Familie in der Altstadt wohnt. «Ich schätze, dass man in Bern nicht immer der neusten Mode hinterherhetzt und recht gelassen ist.» Als Leiter des Robert Walser Zentrums ist Sorg mit Expertinnen und Übersetzern auf der ganzen Welt vernetzt. «Kürzlich hat mich ein Topbanker kontaktiert, der in seinem Kundenbrief Walser zitieren wollte.» Seine Rolle sieht Sorg in der Vermittlung von Literatur. Er ist überzeugt: «Menschen beschäftigen sich obsessiv mit Geschichten, sei es, indem sie sich für Fussball, Netflix oder Walser interessieren.» Sorg hegt nebst der Liebe zur Literatur auch ein Faible für Musik. In den Siebzigerjahren gründete er gar ein Open-Air-Festival mit. Auch heute noch geht er an Konzerte, zum Beispiel im Dachstock der Reithalle. Und ja, es gibt ein Leben neben Walser. «Momentan lese ich David Foster Wallace und höre amerikanischen Neo-Folk.»

Helen Lagger

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