Chrislesendefrau
X Schneeberger schreibt über das Leben von Strichern, Dragqueens und Partypeople. Foto: Helen Lagger

Sein neues Buch ist ein Roadtrip, der sich aus allen Genres bedient

X Schneeberger schreibt in seinem neuen Buch «Swissminiature» über das Leben von Strichern, Dragqueens und Partypeople und erzählt dabei über nationale und persönliche Abgründe.

Braucht dein Buch eine Triggerwarnung? Das fragt der BärnerBär den Autoren X Schneeberger, den man auch als Kris oder X Noëme –
wie er sich als Dragqueen nennt – kennt. «Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht», so Kris während eines Treffens in der Turnhalle des Progr. Er finde es selbst manchmal unangenehm einfach in irgendeine Sexszene reingeschubst zu werden. Doch bevor es passiert – es geht in der besagten Stelle um harten, fetischistischen Sex – sprechen die Protagonisten im Buch darüber. «Es wird gewissermassen angekündigt. Du kannst aus – und danach wieder einsteigen.» Wer nun denkt, das zweite Buch von X Schneeberger, das im Brotsuppe-Verlag Biel erscheint, sei eine plumpe Provokation, irrt sich gewaltig. Tatsächlich handelt es sich bei «Swissminiature» um ein moralisches Buch, das sich mit Schweizer Geschichte, mit längst Verdrängtem und immer noch Schieflaufendem in unserem Land beschäftigt.

Mit Sogwirkung
X Schneebergers Erstling «Neon Pink & Blue», wurde 2020 mit dem Weiterschreiben-Stipendium der Stadt Bern und 2021 mit dem Schweizerischen Literaturpreis ausgezeichnet. Es geht darin um eine Hauptfigur, über die mit ständig wechselnden Pronomen von «er» über «sie» oder auch «es», berichtet wird. X Schneeberger erzählt dabei von einer Kindheit im aargauischen Vogelsang, dem Wunsch ein Mädchen zu sein, von Auftritten als Dragqueen und Einsätzen als Aktivist. Autofiktion, nennt sich dieses boomende Genre, das in Frankreich mit Annie Ernaux oder Édouard Louis zwei besonders wichtige Vertreter:innen hervorgebracht hat. In der Schweiz denkt man wohl zuerst an Kim de l’Horizon, eine genderfluide, nicht binäre Person, die unter einem Pseudonym Lyrik, Prosa und Theaterstücke verfasst. Ihr Debutroman «Blutbuch» erhielt 2022 sowohl den Deutschen Buchpreis wie auch den Schweizer Buchpreis. Es gibt Parallelen zu X Schneeberger. Beide spielen enorm mit Sprache, jonglieren mit Wörtern, entwickeln eigene Pronomen und integrieren ganze Passagen in einer Fremdsprache. Das Faszinierende für die Leser:innen: Man gewöhnt sich rasch daran. Beide Autorenpersönlichkeiten schreiben mit Sogwirkung.

Unterwegs mit «Goldjunge»
«Mein erstes Buch war sperriger», findet Kris. Es sei damals um eine Sprachfindung gegangen, wobei er viel experimentiert habe. Das zweite ist ein Roadtrip geworden, der sich aus allen Genres bedient. Die Fiktion nimmt dabei überhand. Die Erzählerfigur reist in einem Mercedes-Bus umher, nimmt Drogen, prostituiert sich und denkt dabei über Schweizer Mythen, Aids und Rassismus nach. Zu seinen Begleiter:innen gehören ein Typ namens DJ Goldjunge und eine Figur, die sich LaRabiata – auf Deutsch «Die Wütende» nennt. Man kann die beiden als imaginäre Freund:innen der Erzählerfigur deuten. Mehrmals schalten sie sich in die Handlung ein, übernehmen das Schreiben und gestalten so etwa einen anderen Schluss, um so denjenigen von X Schneeberger zu torpedieren.

Bleibende Kindheits­erinnerung
Die einzelnen Kapitel fangen alle mit einer Beschreibung eines Monumentes aus dem Themenpark «Swissminiature» im Tessin an. «Für mich wie wohl auch für viele andere ist Swissminiature eine bleibende Kindheitserinnerung», so Kris. Es gehe bei dem Park um eine Verdichtung und Selbstdarstellung der Schweiz. Bern kommt unter anderem mit dem Münster, dem Schloss Oberhofen oder dem Zytgloggen im Roman vor. Bei Swissminiature No 88 denkt X Schneeberger über ein Emmentaler Bauernhaus nach und schreibt über das Geranium, das eigentlich aus Südafrika stammt und somit «ein traditioneller Neophyt helvetischer Architektur» sei. Die Geranien werden zum Anlass über das «gute» Verhältnis der Schweiz zum Apartheitsstaat zu philosophieren und über einen Elefanten, der in Zürich ausbrach und dafür sorgte, dass der damalige Boyfriend von X Schneeberger zu spät kam, was für Ärger sorgte. «Das stimmt wirklich», so Kris. «Ich glaubte ihm nicht. Wer denkt schon an einen Elefanten in Zürich.»

Kein No Future
Seine Themen sind ernst. Der Grossvater, der ein Verdingbub war, die Grossmutter und die Nazis, die eigene Fragilität als Homosexueller in den 90-er Jahren, als noch Listen von der Polizei geführt wurde, wer sich in Schwulenclubs herumtrieb – alles findet Platz in X Schneebergers Roman. Weltschmerz ja. Aber eine apokalyptische Weltsicht will er sich nicht leisten. «Ich habe eine zehnjährige Nichte. Das hat meine Sicht verändert. No Future ist lebensgefährlich für Jugendliche.»

Helen Lagger

PERSÖNLICH

X Schneeberger oder X Noëme – wie er sich als Dragqueen nennt – wurde 1976 geboren und ist Aktivist:in, Literat:in und Moderator:in von Club­literatur im sosospace. Sein erster Roman «Neon Pink & Blue» wurde 2020 mit dem Weiterschreiben-Stipendium der Stadt Bern und 2021 mit dem Schweizerischen Literaturpreis ausgezeichnet. X Schneeberger lebt in Bern.

SWISSMINIATURE

Das Buch «Swissminitature» ist der zweite Roman von X Schneeberger der im Brot­suppe-Verlag erschienen ist.

BUCHVERNISSAGE 6.12.
Aula Progr, 19 Uhr
KURZFILM von Julia Lanz
mit X Noëme «transformis –
Schule der Melancholie»

PREMIERE 10.12.
cineMovie 2, 14 Uhr

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