Als Kind ist die Berner Autorin Meral Kureyshi aus dem damaligen Jugoslawien geflüchtet. In der Schweiz hat sie ihre eigene Sprache gefunden. Ihre Prosa ist bildhaft und poetisch, ihre Figuren ein wenig verloren.
Zwei abgebrannte Zündhölzchen strecken die Köpfe zusammen. So sieht das zumindest aus, auf dem Buchcover von «Fünf Jahreszeiten», Meral Kureyshis zweitem Roman, der 2020 erschien. Es ist ein Foto, das die Autorin selbst gemacht hat. Die abgebrannten Zündhölzer fand sie in einer WG auf der Toilette, wo sie wohl schlechte Gerüche vertreiben sollten. Nun sind sie zum Sinnbild geworden für die zahlreichen Begegnungen in Kureyshis Roman, in dem man einer Ich-Erzählerin durch Bern folgt. Die Protagonistin hat ihren Master in Filmwissenschaften abgebrochen und arbeitet im Kunstmuseum als Aufseherin. Und sie ist zwischen zwei Männern hin- und hergerissen. Kureyshi widerspricht: «Sie muss sich doch gar nicht entscheiden.» Für ihr Buch hat sie insgesamt fünf Jahre gebraucht, zweimal musste das Erscheinungsdatum verschoben werden. «Ich habe ein grosses Mitteilungsbedürfnis, doch beim Schreiben denke ich nicht ans Publikum, sondern daran, was mich bewegt. Die Ich-Erzählerin wird immer stark mit mir verbunden. Dabei stecke ich in all meinen Figuren», stellt sie klar.
Der Winter? «Horror!»
Im Kunstmuseum hat sie tatsächlich eine Zeit lang gearbeitet. Allerdings nur zu Recherchezwecken, da sie da schon wusste, in welche Richtung ihr Buch steuern würde. «Klar, habe ich da die Leute beobachtet.» Im Roman geht es auch um Zeit, die nicht vergeht. Die Filme des französischen Regisseurs Eric Rohmer (1920-2010) haben Kureyshi inspiriert. Parallelen finden sich leicht. Auch bei Rohmer, einem Vertreter der Nouvelle Vague, gibt es keine rasante Handlung, die durch dramatische Ereignisse vorangetrieben wird. Dafür: Blicke, Dialoge, Zusammenkünfte. «Ich mag Geschichten, die etwas öffnen, nicht schliessen», erklärt die Autorin, die meist dann schreibt, wenn es ihr nicht so gutgeht. «Wenn es mir gutgeht, gehe ich lieber aus», sagt sie lachend. Was es mit der fünften Jahreszeit auf sich hat, sei hier nicht verraten. Nur so viel: Der Titel ist als Trugbild zu verstehen, weil es eine fünfte Jahreszeit nicht wirklich gibt. «Frühling ist meine Lieblingsjahreszeit», verrät Kureyshi, «weil dann alles erwacht. Ich auch.» Der Sommer? «Zu heiss.» Der Herbst? «Dann kommt der Winter.» Und der Winter? «Horror.» Sie selbst liest gerne die gleichen Bücher mehrmals. Zum Beispiel «Brief an D.» von André Gorz, in dem ein alter Mann über seine Frau schreibt. Die beiden nehmen sich gemeinsam das Leben. Ein Liebesroman? «Was ist kein Liebesroman?», fragt Kureyshi rhetorisch. «Liebe ist alles und in allem.»
Die Flucht und der Schock
Kureyshi ist die Tochter eines Ingenieurs und einer Dolmetscherin. Sie wurde in Prizern im ehemaligen Jugoslawien geboren und flüchtete mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in die Schweiz, als sie zehn Jahre alt war. Ihre Familie gehörte der muslimisch-türkischen Minderheit an. «Ich wuchs mit Märchen, Gebeten und Sinnsprüchen auf», erinnert sie sich. In der Schule lernte sie Gedichte auswendig und die ganze Familie ging an Lesungen, was in ihrer Geburtsstadt nichts Ungewöhnliches war. «Es herrschte dort eine regelrecht mythische Atmosphäre. Prizern ist die schönste Stadt im Kosovo», schwärmt Kureyshi. Ihrer Familie ging es finanziell gut, sie besuchte auch mal die Wiener Oper oder den Zoo in Belgrad. «Nach der Flucht waren wir Asylanten.» Für Kureyshi ein grosser Schock. Ihre Eltern durften nicht arbeiten, sie sassen ohne Perspektiven in einer Notunterkunft fest. «Mein Vater hat uns Kinder einmal über einen Zaun geworfen, damit wir in die Badi gehen konnten», erinnert sich Kureyshi an die schwierige Zeit. Auch sie selbst war blockiert, musste eine Lehre machen, die nicht länger als ein Jahr dauerte. Denn die Familie hatte einen Negativentscheid bekommen. Später holte Kureyshi die Matura nach. Heute spricht sie sieben Sprachen und hat zwei Romane geschrieben. Doch sie sagt: «Ich bin sprachlos.» Damit meint sie, dass sie in keiner Sprache aufgewachsen ist. An der Universität schrieb sie über Agota Kristóf, eine schweizerisch-ungarische Autorin, die sich die französische Sprache hatte aneignen müssen und gerade dadurch einen eigenen Stil entwickelte. «Wenn dir die Sicherheit in einer Sprache fehlt, willst du dich erklären», so die Autorin. «Gut möglich, dass es deshalb manchmal sich wiederholende Bilder in meinen Büchern gibt.»
Helen Lagger