Tabeafavorit

Von Emanzipation, Freikirchen und dem schwierigen Dorfkind

Die Autorin Tabea Steiner sitzt in Jurys, moderiert Anlässe und schreibt an ihrem zweiten Roman. Der Bärnerbär hat sie im Zentrum Paul Klee getroffen.

«Ich war die Leseratte der Familie», verrät Tabea Steiner, auf ihre Kindheit angesprochen. Die gebürtige Bernerin ist mit fünf Geschwistern am Bodensee auf einem Bauernhof aufgewachsen. Von den Büchern, die sie als junges Mädchen las, sind ihr weniger die Titel, sondern eher einzelne Bilder geblieben, wie sie sagt. «Natürlich habe ich alles von Federica de Cesco gelesen.» Geschrieben hat sie immer schon, allerdings lange heimlich. Ein Primarlehrer erkannte anhand ihrer Aufsätze ihr Talent. Als 2019 mit «Balg» Steiners erster, von der Kritik gefeierter Roman herauskam und sie auf Lesetournee ging, tauchte dieser Lehrer gleich zweimal an einer Lesung auf. «Balg» erzählt von einem schwierigen Kind in einem Dorf, in dem alle wissen, was das Richtige wäre. Dabei erzählt Steiner in raffinierter Art und Weise aus unterschiedlichen Perspektiven. Die alleinerziehende Mutter hadert mit ihrem Dasein und vernachlässigt ihr Kind. «Antonia ist die schwierigste Figur. Es war mir wichtig, sie trotz ihrer Fehlbarkeit nachvollziehen zu können», so Steiner. Die Autorin, die selbst keine Kinder hat, fragte gar eine Soziologin nach der Glaubwürdigkeit dieser Mutter und bekam grünes Licht. «Meine Figuren haben Defizite. Ich will keine perfekte Welt aufzeigen.» Das Dorf und seine Akteure sind fiktiv. Mit der Ausnahme eines Schauplatzes – eine verlassene Kegelbahn –, die es in dem Dorf, in dem sie aufwuchs, tatsächlich gab. Der Arbeitstitel ihres Romans lautete denn auch lange Zeit «Das Dorf». Das suggestivere «Balg» fand sie schliesslich gemeinsam mit ihrem Verlag.

Die Sekte als Lehrerzimmer
Aktuell schreibt Steiner an ihrem zweiten Roman, was nach einem erfolgreichen Erstling oft als besondere Herausforderung gilt. Doch Steiner ist schon mittendrin in einer neuen Geschichte rund um komplexe zwischenmenschliche Beziehungen. «Dieses Mal geht es um eine Emanzipation in einem religiösen Umfeld», sagt die Autorin. «Ich komme selbst aus einem religiösen Elternhaus, schreibe aber nicht über mich», stellt sie klar. Es geht ihr vielmehr um gewisse Dynamiken. «Eine Freikirche funktioniert ein wenig wie ein Lehrerzimmer. Es gibt viele ungeschriebene Gesetze.» Steiners Romanfigur hinterfragt die von der Kirche vorgegeben Konventionen und stösst auf Widerstand. «Ich habe selbst lange Zeit kurze Haare und keine Röcke getragen», erinnert sich Steiner an ihr eigenes Ringen mit den Regeln von Kirche und Elternhaus. «Heute bin ich zum Schluss gekommen, dass das Wichtigste die Nächstenliebe ist, nicht die Konventionen.» In Bern hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Sie lebte lange in Thun, wo sie 2004 das erste Literaturfestival ins Leben rief. 2014 war sie Mitbegründerin des Lesefestes Aprillen, das jährlich im Berner Schlachthaus Theater stattfindet. Aktuell wohnt Steiner mit ihrem Partner, einem Germanisten, in Zürich. Steiner ist nicht nur selbst Autorin, sondern auch eine engagierte Literaturvermittlerin. Sie sitzt seit 2016 in der neunköpfigen Jury, die die Schweizer Literaturpreise vergibt. Was macht gute Literatur aus? «Das ist schwierig in Worte zu fassen», meint Steiner. «Natürlich gibt es Kriterien um Form und Inhalt zu beurteilen. Es geht nicht nur um die Geschichte, sondern darum, wie etwas erzählt wird.» Sie selbst hat ein Faible für Lyrik. «Dieses Genre wird in der Literatur häufig marginalisiert», führt sie aus. «Mich fasziniert gerade das nicht Zugängliche daran.»

«Literatur ist für mich Dialog»
Zurzeit liest Steiner, die derzeit auf dem Sprung in die Ferien ins Tessin ist, allerdings Prosa: Der Schneeleopard von Peter Matthiessen (1927- 2014) liegt auf ihrem Nachttisch. «Das Buch wurde gerade aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt», so Steiner. Der Erzähler begibt sich im Roman gemeinsam mit einem Biologen auf eine Exkursion, um Blauschafe zu untersuchen. «Mir gefällt das Kontemplative und die schöne Sprache.» Matthiessen habe bereits in den späten Siebzigerjahren auf den Klimawandel aufmerksam gemacht. «Er war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Umweltschützer.» Als Moderatorin – Steiner begleitet Lesungen im Zentrum Paul Klee – kommt sie gerne mit aktuellen, noch lebenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Kontakt. «Literatur ist für mich ein Dialog.» Diesen Oktober werden ihre Gäste der Bündner Autor Reto Hänny und die Berner Lyrikerin Eva Maria Leuenberger sein. «Lesungen sind schön und wichtig für Autorinnen und Autoren. Man erfährt ganz viel Wertschätzung», weiss sie aus eigener Erfahrung.

Helen Lagger

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