Liviabühne1

Wenn sich die ältere Dame wieder «liecht wienes Fäderli» fühlt

Livia Anne Richard will mit ihrem Stück «flöört.ch – Flirten lernen in 90 Minuten» wieder etwas Entspannung in die Gesellschaft bringen. Der Bärnerbär war bei einer Probe mit dabei.

Ein riesiges Herz bildet die Bühne des diesjährigen Freilichttheater Gurten. Der Schlager «Weisse Rosen aus Athen» wird kurz eingespielt. «Zu dere Schnulze cha me jitz aber würklech nid tanze!», beschwert sich einer.
Die Szene spielt sich während eines Flirtseminars ab respektive in einer Probe des Stückes «flöört.ch – Flirten lernen in 90 Minuten» von Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard. Sie hat viele lustige Theater-im-Theater-Momente geschaffen. Denn die Flirtwilligen, dargestellt von zwölf Schauspielerinnen und Schauspielern unterschiedlichsten Alters, müssen im Rahmen des Seminars in Rollen schlüpfen, sich gegenseitig anflirten.
So fühlt sich eine Dame mittleren Alters «liecht wines Fäderli», nachdem ihr ein Jüngling mit Dutt-Frisur gesagt hat, sie habe einen offenen Blick. Der gelungene Flirt ist natürlich nur eine Übung, die vom Flirt-Coach (Christoph Keller) und den anderen der Gruppe beobachtet wird. Geachtet wird auf Körpersprache, Blickkontakt und das Abbauen von Distanz. Platzhirsch Magnus hat damit scheinbar keine Mühe, bis seine Maske fällt und er sich als verzweifelter Langzeit-Single outet.
Das Urkomische und das feinsinnig Zwischenmenschliche bestehen in den Stücken von Richard stets nebeneinander. Ihre grössten Erfolge feierte sie bisher mit «Dällebach Kari» (2006/2007) auf dem Gurten und in Zermatt mit dem Stück «The Matterhorn Story» (2015). Auf dem Gurten feiert sie mit ihrer Crew in diesem Jahr das 20. Jubiläum – über 160 000 Menschen haben ihre Inszenierungen besucht.

Gegensteuer geben
Nach einer zweijährigen Corona-Pause kehrt Richard mit «flöört.ch – Flirten lernen in 90 Minuten» auf die grosse Bühne zurück. Ihr ursprünglich geplantes Stück «ALTER! – Experiment Generationenhaus …» hat sie erstmal auf Eis gelegt. «Jedes Stück hat sein Momentum», sagt die Autorin, die findet, Corona habe die Karten in vielerlei Hinsicht neu gemischt. «Plötzlich stellte sich die Frage, was uns das Leben älterer Menschen Wert ist.»
Auch der Tod des Schauspielers René Blum, der im Stück eine Rolle gehabt hätte, beeinflusste ihre Entscheidung, auf einen anderen Stoff zu setzen. «Unter Flirt versteht man eine kleine Liebelei, also etwas Leichtes», so Richard, die glaubt, dass diese Leichtigkeit während der Pandemie verloren ging. Auch die Digitalisierung schade dem Flirt. «Früher haben sich Leute auch mal im Tram angeflirtet, heute starren alle in ihre Handys, manchmal sogar noch mit Stöpseln im Ohr.»
Mit ihrem Stück möchte sie Gegensteuer geben, entkrampfen. Zuerst wollte sie alles frei erfinden. Doch beim Recherchieren stellte sie fest, dass es tatsächlich zahlreiche Seminare zum Thema gibt. Richard konsultierte kurzerhand einen echten Flirt-Coach und lernte unter anderem, dass die Altersspanne der Kundschaft von 16 bis 80 reicht. Dementsprechend divers ist ihre Truppe, die sie, nebst Vollprofi Christoph Keller, aus theatererprobten Amateurinnen und Amateuren zusammengestellt hat. «Meine Figuren sind Archetypen, vom Aufreisser bis zur Rezeptionistin, die genug davon hat, ständig blöd angemacht zu werden.» Mit Kerstin und Ueli ist auch ein Paar mit von der Partie, er nicht ganz freiwillig. Die Frau möchte einfach wieder mal gesehen werden von ihrem «Mürggu».

Konservativer Flirt-Coach
Wie hat es die Regisseurin selbst mit dem Flirten? «Ich kann, wenn es sein muss, schon meinen Charme aktivieren», so Richard lachend. Sie ist aber überzeugt: «Flirten kann man auch in der Migros mit der Kassiererin, ganz ohne erotische Absichten.»
Es ist ihr wichtig, in ihrem Stück auch LGBTIQ-Themen einfliessen zu lassen, mit denen sie sich aufgrund ihrer Romantrilogie – erschienen ist bereits «Anna der Indianer» – intensiv beschäftigt hat. «Der Flirt-Coach im Stück ist ziemlich konservativ. Er muss erst merken, dass es mehr als nur den Flirt zwischen Mann und Frau gibt», meint Richard. So fragt etwa ein älterer Mann einen Jungen: «Bist zu schwul?» Dieser erwidert darauf: «Me muess nid allem es Etiquettli aahänke.»
Bei der Sprache – Richard ist als Mitgründerin des Theater Matte seit geraumer Zeit auf Mundart spezialisiert – achtet sie auf Musikalität. «Ich bin ein Rhythmus-Junkie und höre sofort, wenn etwas nicht stimmig klingt.» Timing ist auch punkto Action alles. «Ich möchte nochmals den Übergang sehen», ruft sie bei der Probe. Und es erklingen wieder «Die weissen Rosen aus Athen», worauf alle mit den Augen rollen.

Helen Lagger

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