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Wer seine Bücher liest, gerät in einen Sog

Tom Kummer schreibt gerade an seinem dritten Roman. Es ist jene Trilogie, die er seiner verstorbenen Frau Nina widmet. Im Gespräch erzählt er, warum fahrende Autos gut für die Dramaturgie sind.

Seine journalistische Tätigkeit fing bewegt an: «Tempo» (1986-1996) hiess die Zeitschrift, bei der sich Tom Kummer seine Sporen als junger Wilder abverdiente. «Wir wollten mit dem Mief der 68er aufräumen», erinnert er sich an diese Zeit. «Die waren uns zu etabliert und zu phlegmatisch.» Kummer und Konsorten riefen ein neues Zeitalter aus, das im Zeichen der Subjektivität stand. «Das eigene Empfinden sollte uns zur Wahrheit führen, nicht diese im Journalismus herrschende Pseudo-Objektivität.»
Dass er dieses Credo reichlich weit trieb und mit fiktiven Interviews einen Skandal auslöste, ist nun zwanzig Jahre her. «Es ist verjährt», so Kummer. Der Autor ist längst dort angelangt, wo er schon immer hingehörte: in der Literatur. Er schreibt sogenannte Autofiktionen. Für seinen Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde er von Kritikerinnen und Kritikerin mit Lob überhäuft und für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Es ist das zweite Buch einer Trilogie, die Kummer seiner 2016 an Krebs verstorbenen Frau Nina widmet. «Nina und Tom» (2017) hiess der erste Roman und «Gegen ihren Willen» wird der dritte heissen, an dem er gerade schreibt. Wer Kummer liest, gerät in einen Sog. Der Autor liebt es, falsche Fährten zu legen, spielt mit Ambivalenzen und nimmt seine Leserinnen und Leser oft an regelrechte Unorte,die versteckte Magie in sich bergen, mit. «Autobahnbrücken haben auf mich eine besondere Ausstrahlung. Vielleicht liegt es daran, dass ich mehr als zwanzig Jahre in der Autostadt Los Angeles gelebt habe», so Kummer.
Im Rahmen des Kunstprojekts «Transform», bei dem er den Jurypreis gewann, gestaltete er 2017 den Europaplatz um. Mit seinem Projekt «Die Säulenheiligen von Holligen» rückte er den Platz unter dem Autobahnviadukt während knapp drei Monaten in ein neues Licht. Dies tat er, indem er die Säulen verkleidete, verdoppelte oder als Wegweiser zu angeblichen Kraftorten im Quartier benutzte. Wie bei seinen Texten ging es darum, bei den Adressaten das Kopfkino in Gang zu setzen. Auch dass hier allenfalls eine neue Religion einfach so aus dem Boden gestampft worden war – in Kalifornien nichts Neues – schwang bei dem Projekt rund um die Säulenheiligen mit.

Sehnsucht nach Aufbruch
Aufbruch zieht sich durch Kummers Leben. Von Bern verschlug es ihn zuerst nach Berlin und später nach Los Angeles – um sich «neu zu erfinden», wie er sagt. In der Ferne lernte er seine künftige Frau Nina kennen. Das Paar sprach Englisch zusammen, bis es merkte, dass beide aus der Schweiz stammten. Mit ihren beiden Söhnen lebten die beiden Künstlerexistenzen in enger Symbiose. Als Nina starb, kehrte Tom nach Bern zurück. «Los Angeles konnte ich nur im Team erleben. Allein mit meinen Söhnen fühlte ich mich verloren.»
In Bern lebt er gemeinsam mit seinem jüngeren Sohn Jack (17) zusammen, während der ältere Sohn Henry (22) sich in New York niedergelassen hat. Den Lockdown nimmt Kummer relativ gelassen. «Als Schriftsteller ist man es gewohnt, viel zuhause zu sitzen und zu schreiben.» Für seinen neusten Roman recherchiert er häufig in Biel, wo seine Frau herkommt. «Ich habe mir ein E-Bike gekauft. Mit sechzig Jahren darf man das», lacht er. Während man im vorangehenden Roman «Von schlechten Eltern» den Autor im alleinerziehenden Vater erkennen konnte, nimmt Kummer sich im neusten Roman stark zurück. Ein Frauenroman sei es. «Natürlich schwebe ich trotzdem über dem Buch, weil ich es nun mal geschrieben habe.» Durch das Schreiben fühlt er sich Nina nahe.

Kamerafahrt aus dem Auto
Autos und das Fahren spielen in Kummers Texten oft eine spezielle Rolle – sie werden zu Sehnsuchtsvehikeln und Stilmitteln. «Ich liebe Bewegung in meinen Geschichten», so der Autor. Als dramaturgisch reizvoll empfindet er es, aus dem Auto heraus zu erzählen und so auch auf die vorbeiziehenden Landschaften einzugehen. In «Von schlechten Eltern» fährt der Erzähler als nächtlicher Chauffeur durch Bern. Kummer selbst war als 20-Jähriger Chauffeur des brasilianischen Botschafters. «Ich musste oft warten», erinnert er sich an diesen Job. Um einiges zwielichtiger sind die Fahrgäste in Kummers Roman. Für den Fahrer gilt: Nachts sind alle Katzen grau.

Helen Lagger

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