Pfarrer Andreurwiler 2

«An Beerdigungen geschahen unerwartet lustige Sachen»

Freude und Trauer waren als Pfarrer seine ständigen Begleiter. Nun hat André Urwyler ein Buch über Schicksale, Zufälle und die Nähe zu Gefühlen geschrieben.

André Urwyler, Sie sind Pfarrer, waren erst in Wahlern, dann in Amsoldingen, danach in Köniz und schliesslich an verschiedenen Orten im Seeland tätig. Nun haben Sie ein Buch mit dem Titel «Einmal Pfarrer – immer Pfarrer» geschrieben. Was hat es mit diesem Titel auf sich?
Es gab in meiner Jugend einen Aufkleber, «Einmal Pfader, immer Pfader», der schweizweit bekannt war. Dieser klebte auf meinem Etui, das ich auch noch während der Uni benutzte. In einer vermutlich mässig spannenden Vorlesung strich ein Kommilitone das «d» und ersetzte es mit «rr». Ab dann hiess es «Einmal Pfarrer, immer Pfarrer».

Der Spruch gleicht einem Konfirmationsspruch.
(Lacht) Hinter einem Konfspruch steckt meist noch ein wenig mehr als hinter diesem. Der Spruch «Einmal Pfader, immer Pfader» ist ein Bekenntnis zur Gemeinschaft, die mir viel bedeutet und zu der ich bis heute freundschaftliche Bande pflege.

Die Aufgabe des Pfarrers ist das Verkünden der Lehre Christi in allen Formen. Ist dieses Buch ein Teil dieser Verkündigung oder hatten Sie eine andere Motivation?
Meine Aufgabe als Pfarrer ist die Verkündigung der Guten Botschaft, des Evangeliums. Das Buch ist keine Verkündigung, erst am Ende des Buches rede ich darüber, was beispielsweise Tod und Auferstehung sowie Religion für mich bedeuten. Das Buch entstand aus einem ganz anderen Grund: Zum 66. Geburtstag schenkte mir mein jüngster Sohn ein Buch mit leeren Seiten sowie zwei Kugelschreiber und sagte: «Schreib doch die vielen Geschichten auf, die du immer aus deinem Pfarramt erzählst!» Ich hatte keine allzu grosse Freude an diesem Geschenk. Nach einigem Zögern und einem Radiointerview begann ich – allerdings am Computer – damit, all die Erinnerungen und Begegnungen schriftlich festzuhalten. Das machte mir dann sehr viel Spass.

Wo liegt der inhaltliche Schwerpunkt des Buchs?
Eigentlich besteht das Buch aus zwei Teilen: Zuerst ein Teil zu Kindheit, Jugend und Werdegang, danach folgen Geschichten aus der Gemeinde. Die teils lustigen, aber auch traurigen Begebenheiten habe ich alle selbst erlebt. An den Geschichten sieht man, wie das Schicksal zuschlagen kann, aber auch, wie unglaublich tolle Sachen und Begegnungen dank Zufall entstehen können. Mit dem Buch will ich zeigen, wie abwechslungsreich und spannend der Beruf des Pfarrers sein kann. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass jedes Leben spannend ist und man über jedes Leben ein Buch schreiben könnte.

Welche beruflichen Erfahrungen haben Sie am meisten geprägt?
Das schönste an meinem Beruf sind die vielen Begegnungen. In unzählige Hände – «verwärcheti», junge, alte – durfte ich das Abendmahl legen. Ich kann kein Einzelschicksal nennen, mich prägte viel eher, wie Leute generell mit freudigen Ereignissen, Trauer oder Krankheiten umgingen. Ich bekam sehr viel Kraft von Sterbenden, aber auch die Lebensfreude der Jungen beeinflusste mich. Die zunehmende Administration. Sitzungen und Ähnliches nahmen mir viel Energie und Zeit. Es blieb immer weniger für das, was mir persönlich am wichtigsten ist: von neuen Begegnungen überrascht zu werden.

Gab es auch prägende Begegnungen ausserhalb des kirchlichen Raums?
Natürlich, unzählige! Die Kirche ruht auf den drei Pfeilern Seelsorge, Verkündigung und Unterricht, wobei die Seelsorge einen wichtigen Platz einnimmt. Ich führte viele intensive Gespräche, in den früheren Gemeinden oft auch in den Ställen beim Vieh. Wenn ein Bauer mir «sini Waar» zeigen wollte, wusste ich, dass ich sein Vertrauen gewonnen hatte. Auch in den Lagern mit den Jungen oder auf Altersreisen redete man über beinahe jede Lebenssituation. Ich glaube, dass dies auch damit zusammenhängt, dass man weg von zuhause ist.

Bei der Lektüre des Buchs fällt auf, dass der Grat zwischen Freude und Leid oft sehr schmal ist. Die meisten Geschichten schildern Sie sehr humorvoll. Ist dies Ihre Art, mit tragischen Begegnungen umzugehen?
Ja, das kann man sicherlich so sagen. Auch an Beerdigungen geschahen viele unterwartet lustige Sachen. Ich versuche auch immer, Beerdigungen so zu gestalten, dass man weinen, aber auch schmunzeln oder lachen kann. Diese Nähe zu den Gefühlen – positiven wie negativen – ist mir sehr wichtig.

Wie haben Sie Gespräche mit Angehörigen zur Vorbereitung auf Trauergottesdienste oder Abdankungen erlebt?
Ganz am Anfang hatte ich bei solchen Gesprächen immer schweissnasse Hände. Ich merkte aber bald, dass ich keine Angst haben musste, da die Angehörigen mir ebenfalls viel gaben. Ich nahm mir immer sehr viel Zeit, Trauergespräche bei mir dauerten immer mindestens zwei Stunden oder mehr. Die Leute öffneten sich
plötzlich, konnten erzählen, konnten auch wütend auf Gott sein. Als ich mein eigenes Kind auf den Friedhof bringen und die Abdankung halten musste, gab mir jemand ein gutes Bild mit: Es gibt Zeiten, in denen man die Faust gegen «den da oben» machen muss. Wenn man aber zu lange eine Faust macht, verkrampft sie sich. Erst wenn sich die Finger wieder öffnen, kann man etwas in die Hand legen. Dieses Abwarten, bis sich der Krampf gelöst hat, ist mir sehr wichtig. Nach der Beerdigung gibt es oft Nachgespräche und Begleitungen, aus denen sogar Freundschaften entstehen können.

Haben Sie durch Ihre tägliche Arbeit die komplette Lebenserfüllung gefunden?
Das kann man durchaus so sagen. Ich muss mich nicht fragen, was mein Lebenssinn ist, ich habe diesen von den Leuten erhalten. Das Kreuz ist ein wichtiges Symbol für mich. Es symbolisiert die Verbindung von oben nach unten, ich will geerdet sein, aber auch spüren, dass Himmlisches existiert. Diese Achse braucht eine Querverbindung, das ist die Mitwelt und die Mitmenschen. Die horizontale Achse alleine würde im luftleeren Raum stehen, es braucht die Verbindung zum Boden, aber auch nach oben zu Gott.

Das erinnert an eine andere Symbolik: Pfarrer Sieber beschrieb das Kreuz als Zusammenstellung eines Rahmens.
Dieses Bild habe auch schon verwendet. Es ist wichtig, nach links, rechts, oben und unten offen zu sein. Ein Rahmen schränkt ein, beschränkt sich auf die Darstellung eines Ausschnitts. Ich falle aber ganz gerne aus dem Rahmen.

zvg

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