Die Grande Dame des Berner Stadttheaters feierte letztes Jahr ihren 75. Geburtstag. Im Bärnerbär-Interview spricht Heidi Maria Glössner mit entwaffnender Offenheit über die Freuden und Leiden im Alter.

Frau Glössner, ab wann ist man alt?
Als ich ein Kind war und auch als junge Frau, da kamen mir Menschen über 50 alt, ja uralt, vor. Sie bewegten sich anders, langsamer, gebückter, sie trugen ältliche Kleider und Frisuren.

Ob ein Mensch alt ist oder alt aussieht, liegt demnach im Auge Betrachters?
Da bin ich mir nicht sicher. Bestimmt wirken Leute in meinem Alter auf die heutigen Jungen auch alt, da muss man sich nichts vormachen.

60-Jährige fühlen sich heute oft wie die Menschen früher mit 40, sagen Lifestyle-Experten und Soziologen.
Das ist so, denn es hat sich im Vergleich mit den vorderen Generationen etwas Grundlegendes geändert, denke ich: Die meisten älteren Menschen wirken heute selbstbewusster, fitter und gesünder, was wohl auch eine Folge des medizinischen, hygienischen und ernährungswissenschaftlichen Fortschritts ist.

Studien sagen, dass die Leute ab 50 Jahren punkto Frisur, Kleidung und Lebenswandel früher von modisch auf praktisch umschalteten. Die heutigen Best Ager, wie man so schön sagt, gehen weiterhin mit der Mode, sie trainieren ihre Muskeln und buchen die nächste weite Ferienreise.
Das mit dem Trainieren können Sie bei mir vergessen, ich bin völlig unsportlich.

Sie sind mit dem Fahrrad zu diesem Interview gefahren …
Das ist in der Stadt Bern praktisch, schnell und erst noch gesund. Ich bin glücklich darüber, dass ich mit über 75 noch so beweglich bin. Zudem kann ich so viel essen und trinken, wie ich mag und nehme trotzdem nicht zu. Ich bin genetisch dahingehend betrachtet ein Glückskind.

Apropos Glückskind: Sie kamen vor ein paar Tagen aus den Ferien in Kalifornien und in Las Vegas zurück. Glück im Spiel gehabt?
Das ist in Las Vegas immer eine Mischrechnung. Man verliert und gewinnt, wie im wirklichen Leben. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Gestern Abend habe ich im Kursaal-Casino gespielt und gewonnen. Ich spendiere Ihnen nach dem Interview ein Glas Wein (lacht).

Ist das Glückspiel im Casino der ideale Ausgleich zum Schauspiel auf der Bühne?
Bei mir hat das einen ganz anderen Hintergrund. Wenn ich mich ab und zu hinter einen Spielkasten setze, kann ich total abschalten von den Problemen dieser Welt. Was da alles passiert, bewegt und bedrückt mich, die Kriege, Menschen auf der Flucht, das Elend der Kinder, der Tiere, der Natur. Es ist furchtbar!

Nimmt dieses Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung über das Leiden in der Welt im Alter zu?
Ja, sicher, aber es hat auch mit meiner Biografie zu tun. Ich bin auch ein Kriegskind. Meine Mutter floh vor den Wirren des Krieges, bevor ich das Licht der Welt erblickte. Bei Untersuchungen wurde damals festgestellt, dass ich unter einem vorgeburtlichen Kriegstrauma leide. Glücklicherweise verbrachte ich dann meine Kindheit in der Schweiz. Es ist unvorstellbar, welch traumatische Last Menschen ein Leben lang mitschleppen müssen, die den Krieg im frühkindlichen Alter hautnah miterleben müssen.

Haben Sie Angst vor der Zukunft?
Es ist beängstigend, darüber nachzudenken, was in der Welt noch alles passieren kann. Wegen meiner persönlichen Situation habe ich aber keine Angst.

Haben Sie keine Angst vor gesundheitlichen Problemen, verspüren Sie noch keine Altersbeschwerden?
Sehen Sie meinen Mittelfinger? Er ist leicht angeschwollen, das ist wegen der Gicht. Der Gedanke daran, dass noch mehr Glieder befallen werden, ist nicht sehr angenehm. Gemäss den Medizinern ist der Genuss von Weisswein und Champagner bei Gicht gar nicht zu empfehlen. Das ist schrecklich, denn ich liebe Champagner.

«Meinen Lebenswandel müsste ich ohne zusätzliche Einnahmen drastisch einschränken.»

Da finden Sie bestimmt einen Kompromiss. Ab und zu ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren?
(Lächelt) Genau. Die Gicht erachte ich auch nicht als mein grösstes altersbedingtes Gesundheitsproblem. Problematischer ist es mit meinen Augen. Das Sehvermögen nimmt ab, ich leide unter einer genetisch bedingten Makuladegeneration, abgekürzt AMD. Langfristig führt AMD zur Blindheit. Ich hoffe sehr, dass der Krankheitsverlauf bei mir nicht allzu schnell vorwärts geht und sich meine Erblindung ins Jenseits verschiebt …

«Gemäss den Medizinern ist der Genuss von Weisswein und Champagner bei Gicht gar nicht zu empfehlen. Das ist schrecklich, denn ich liebe Champagner.»

Sie sagen das mit einer Leichtigkeit..
… was soll ich mir den Kopf darüber zerbrechen? Es ist, wie es ist! Ich akzeptiere, dass der Körper schwächer wird, die Funktionen beeinträchtigt werden, das ist die Natur der Dinge – wie bei einem alten Auto, das auch hin und wieder Ersatzteile braucht. Haha! Jammern hilft nichts und mit über 75 Jahren bin ich doch gesund und munter. Hingegen macht es mich traurig, erleben zu müssen, wie Freunde und gute Bekannte, die beträchtlich jünger sind als ich, schwer krank sind oder viel zu früh sterben.

Die Gesundheit ist das eine, das Materielle das andere. Sie haben einen Beruf gewählt, den Sie auch lange nach Ihrer Pensionierung gerne ausüben. Dieses Glück haben längst nicht alle. Viele sehnen sich nach der Erlösung von ihrem Job und merken anschliessend, dass die Rente nicht reicht. Die Altersarmut nimmt zu. In Ihrer Situation ist das kein Thema, oder?
Natürlich bin ich glücklich und dankbar, dass ich einen Beruf ausgewählt habe, den ich seit über 50 Jahren mit Leidenschaft ausübe. Doch das mit der Rente, die nicht reicht, ist mir nicht ganz fremd. Ich kann den älteren Menschen nachfühlen, wenn sie jeden Rappen zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben.

Das heisst, Sie arbeiten immer noch, weil Ihre Altersversorgung nicht ausreicht.
Ich möchte es anders ausdrücken: Ich bin bis zum heutigen Tag mit Leib und Seele Schauspielerin und überglücklich darüber, dass ich nach wie vor gefragt bin und mir viele Rollen angeboten werden. Doch das Honorar für meine Auftritte ist mir ein hochwillkommener Zustupf zur AHV und zur Rente aus der zweiten Säule.

Nur mit der AHV- und Pensionskassen-Rente würde auch Ihnen die Altersarmut drohen?
Armut nicht, aber meinen Lebenswandel müsste ich ohne zusätzliche Einnahmen drastisch einschränken. Reisen wie kürzlich nach Kalifornien und Las Vegas würden nicht mehr drin liegen. Und auch auf die eine oder andere lieb gewonnene Annehmlichkeit müsste ich verzichten. Am Theater hat man immer wenig verdient, deshalb sind die Renten dann auch klein. Aber Geld war mir nie wichtig, weil die Inhalte, mit denen ich mich täglich beschäftigen durfte, so überaus spannend waren, dass alle «Vorsorge» total in den Hintergrund trat.

Sie gehen langsam auf die 80 zu und stecken immer noch mitten im Leben. Ihre Ausstrahlung, Herzlichkeit und Lebensfreude wirken ansteckend, auf ältere wie auf jüngere Menschen. Wann schreiben Sie Ihre Autobiographie?
Ich schreibe nie ein Buch über mich! Man hat mich mehrmals angefragt und ich habe abgelehnt. Ich gebe sehr gerne etwas von mir preis in Interviews wie jetzt. Doch in einem Buch erwarten die Leserinnen und Leser auch die Enthüllung von Geheimnissen und Intimitäten. Dieser Erwartungshaltung würde ich nicht entsprechen.

Diese Aussage drängt mich zu einer intimen Frage: Ihr Lebenspartner ist vor einigen Jahren gestorben, gibt es wieder einen Mann in ihrem Leben?
Ja, er ist auch bereits an meiner Seite fotografiert worden. Ich bin sehr glücklich! Mehr möchte ich nicht dazu sagen (lächelt).

Viele Menschen werden im Alter einsam. Sie haben keine Lebenspartner und Freunde mehr, mit denen sie sich austauschen können.
Eine Garantie gegen die Einsamkeit im Alter gibt es nicht! Doch kann man Vorkehrungen dagegen treffen, diese beginnen lange bevor man richtig alt wird. So war es mir immer wichtig, auch einen Freundes- und Bekanntenkreis zu haben, der nichts mit meiner Arbeit zu tun hat. Die Pflege von Beziehungen gehört eigentlich auch zur Altersvorsorge.

Wie möchten Sie dereinst Ihren Mitmenschen in Erinnerung bleiben?
Am Theater existiert dieser berühmte alte Spruch: «Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.» Auch ich werde vergessen und muss nicht «in Erinnerung bleiben»!

Matthias Mast